Großbritannien:Die Fehltritte des Boris Johnson

Großbritannien: Was hat er nur wieder angerichtet? Boris Johnsons Liste an Fehltritten ist lang (Symbolbild).

Was hat er nur wieder angerichtet? Boris Johnsons Liste an Fehltritten ist lang (Symbolbild).

(Foto: AP)

Erst die Lockdown-Partys, jetzt die Affäre um einen offenbar sexuell übergriffigen Abgeordneten: Nun wurde der Druck zu groß - auch weil sich beides einreiht in eine ganze Serie von Skandalen. Eine Auswahl.

Von Oliver Klasen, Philipp Saul und Kassian Stroh

Boris Johnson war schon ein Skandal-Premier, bevor die Sache mit den rauschenden Partys in seinem Amtssitz bekannt wurde. Vor dem entsprechenden Untersuchungsbericht einer internen Ermittlerin. Vor der Affäre um den führenden Tory-Abgeordneten Chris Pincher. Erst Anfang Juni musste sich der Premierminister einem Misstrauensvotum seiner Konservativen Partei stellen. Das überstand er zwar, nun wurde der Druck allerdings zu groß.

In der vergangenen Woche war der Abgeordnete Pincher von seinem Amt als "Deputy Whip" der Tories zurückgetreten, weil er Männer sexuell belästigt haben soll. Entsprechende Vorwürfe gegen ihn gibt es seit Langem. Und Johnson räumte in der Zwischenzeit ein, davon gewusst zu haben - daraufhin traten zunächst zwei wichtige Minister seines Kabinetts zurück. Das machte die Lage für den Premier noch heikler, der ohnehin an Vertrauen eingebüßt hatte, seit die interne Ermittlerin zur "Partygate-Affäre", Sue Gray, in ihrem Untersuchungsbericht von Führungsversagen und fehlendem Urteilsvermögen der Regierung sprach. "Viele dieser Events hätten nicht zugelassen werden dürfen", es sei teils zu "exzessivem Alkoholkonsum" gekommen. Bei den Feierlichkeiten zum Thronjubiläum der Queen Anfang Juni wurde Johnson ausgebuht.

Dass er kein Biedermann ist, damit hätte man rechnen können. Als Johnson im Sommer 2019 britischer Premierminister wurde, war der frühere Außenminister und Bürgermeister von London schon lange dafür bekannt, beschwingten Schrittes in ein Fettnäpfchen nach dem anderen zu treten. Und in höchsten Regierungswürden angekommen, machte er genau so weiter. "Chaos ist nicht so schlecht, Chaos bedeutet, dass alle zu mir blicken müssen, um zu sehen, wer der Chef ist", soll Johnson während der Corona-Pandemie einmal gesagt haben. Und so sicherte er sich diese Art Aufmerksamkeit beständig, bis er schließlich seinen Hut nehmen musste. Eine Auswahl an Fehltritten und Affären aus seiner Amtszeit:

Urlaub in der Karibik

Großbritannien: Den Jahreswechsel 2019/2020 verbrachten Johnson und seine Partnerin auf der Karibikinsel Mustique. Aber wer zahlte dafür?

Den Jahreswechsel 2019/2020 verbrachten Johnson und seine Partnerin auf der Karibikinsel Mustique. Aber wer zahlte dafür?

(Foto: Hedelin F/Andia.fr/Imago/Andia)

Immer mal wieder nimmt es Johnson mit der Frage nicht allzu genau, wer in seinem Umkreis wofür bezahlt hat. Mehrmals hält er sich nicht an parlamentarische Standards: Erst gibt er Einnahmen aus seiner Wohnung nicht ordnungsgemäß an, dann meldet er Tantiemen aus einem Buch nicht. Außerdem gibt es den Vorwurf, er habe sich die Kosten für die Nanny seines Sohnes Wilfred von Tory-Unterstützern bezahlen lassen.

Und dann ist da noch eine Reise zur Karibikinsel Mustique, wo Johnson mit seiner Freundin zum Jahreswechsel 2019/2020 eine Woche Ferien in einer Villa mit Butler, Koch und Gärtner macht. Gegenüber dem Parlament gibt er an, der britische Millionär David Ross sei für die Kosten der Unterbringung im Wert von 15 000 Pfund aufgekommen. Doch der will davon nichts wissen, es müsse ein "Fehler" vorliegen. Ross erklärt vielmehr, er habe eine andere Villa organisiert, nicht seine eigene zur Verfügung gestellt. Wer Johnsons Mietkosten bezahlt hat, bleibt lange unklar. Ein Ausschuss kommt dennoch später zu dem Schluss, Johnson habe nicht gegen parlamentarische Regeln verstoßen. Es sei aber ungewöhnlich schwer gewesen, in der Angelegenheit Einzelheiten zu ermitteln.

Teure Dienstwohnung

Britische Regierungschefs dürfen jährlich öffentliche Gelder in Höhe von bis zu 30 000 Pfund für Renovierungsarbeiten beanspruchen. Doch für die luxuriöse Renovierung seiner Dienstwohnung in der Londoner Downing Street gibt Johnson weit mehr als 100 000 Pfund aus. Für die Mehrkosten des Umbaus kommt auf Bitten des Premiers offenbar weitgehend der wohlhabende Tory-Spender David Brownlow auf. Monate später will Johnson davon in einer Befragung nichts gewusst haben.

Als Gegenleistung für Brownlows Zuschuss, so legen es veröffentlichte Whatsapp-Nachrichten aus dem November 2020 nahe, könnte der Regierungschef versprochen haben, ein von dem Multimillionär favorisiertes Kulturprojekt voranzubringen. Die Opposition wirft dem Premierminister deshalb Korruption vor. Weil das Geld nicht korrekt deklariert wird, müssen die Konservativen umgerechnet 20 000 Euro Strafe zahlen. Erst als die Finanzierung der Renovierung Schlagzeilen macht, greift Johnson in die Tasche und zahlt nachträglich selbst für den Umbau.

Der treue Freund mit den Nebenjobs

Großbritannien: Owen Paterson nimmt von Unternehmen viel Geld, muss zurücktreten und die Tories verlieren seinen Wahlkreis - zum ersten Mal.

Owen Paterson nimmt von Unternehmen viel Geld, muss zurücktreten und die Tories verlieren seinen Wahlkreis - zum ersten Mal.

(Foto: Oli Scarff/AFP)

Im Spätherbst 2021 steht Owen Paterson, langgedienter und treuer Tory-Abgeordneter, massiv in der Kritik. Der Kontrollausschuss des Unterhauses kommt nach einer Untersuchung zu dem Schluss, dass Paterson die Lobby-Regeln des Parlaments gebrochen hat. Er hatte hochbezahlte Nebenjobs nicht angegeben, die im Konflikt zu seinen Aufgaben als Abgeordneter standen. Zudem verwendete er sein Abgeordnetenbüro immer wieder für Geschäftsmeetings. Das Komitee schlägt vor, Paterson für 30 Tage zu suspendieren.

Was die Sache mit Johnson zu tun hat? Der Premier will seinen Parteifreund vor dem Ausschluss bewahren und versucht kurzfristig, die Regeln zu ändern, nach denen solche Fälle untersucht werden. Sofort setzt massiver öffentlicher Druck ein und die Regierung muss die Entscheidung zurücknehmen.

Doch der Schaden ist angerichtet, wenig später tritt Paterson zurück, in seinem Wahlkreis wird ein neuer Abgeordneter gewählt. Den Wahlkreis North Shropshire gibt es seit 1932 und immer haben die Konservativen dort gewonnen. 2019 bekam Paterson fast 63 Prozent der Stimmen. Doch nun verliert die Partei fast die Hälfte der Stimmen und kommt auf lediglich 32 Prozent. Erstmals unterliegen die Tories in dem Wahlkreis, eine liberaldemokratische Kandidatin gewinnt.

Rettung aus Kabul: Tiere oder Menschen?

Großbritannien: Britische Streitkräfte bringen 265 Menschen in einem Rettungsflugzeug aus Afghanistan. (Archivbild)

Britische Streitkräfte bringen 265 Menschen in einem Rettungsflugzeug aus Afghanistan. (Archivbild)

(Foto: Handout/MoD Crown Copyright via Getty Im)

Die Bilder aus Kabul gehen um die Welt: Wegen des Vormarschs der radikalislamistischen Taliban versammeln sich im Sommer 2021 Zehntausende Menschen am Flughafen der afghanischen Hauptstadt. Sie wollen in eines der Evakuierungsflugzeuge gelangen, um Afghanistan zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Auch die britische Regierung beteiligt sich an den Rettungsflügen. Innerhalb weniger Tage werden 15 000 eigene Staatsbürger sowie lokale Mitarbeiter von Streitkräften und anderen britischen Einrichtungen außer Landes gebracht.

Zu denen, die das Land verlassen können, zählt der ehemalige britische Soldat Pen Farthing - mit etwa 150 Hunden und Katzen seiner Tierschutzorganisation. Er hatte sich in einer tagelangen Kampagne in sozialen Medien und in Fernsehinterviews für die Rettung der Tiere eingesetzt. Dass die Hunde und Katzen tatsächlich ausgeflogen werden, löst in Großbritannien einen Sturm der Entrüstung aus. Kritiker fürchten, dass die Evakuierung zu Lasten von Menschen geht, die Racheakte der militant-islamistischen Taliban zu befürchten haben.

Berichte, Johnson habe sich persönlich für das Ausfliegen der Tiere eingesetzt, tut der Premier als "kompletten Unsinn" ab. Doch in einer einige Monate später veröffentlichten internen E-Mail des Außenministeriums heißt es ausdrücklich, Johnson habe die Evakuierung von Mitarbeitern und Tieren autorisiert. Ein Sprecher Johnsons weist das zurück.

"Schlag ins Gesicht aller Covid-Kranken"

Großbritannien: Johnson begrüßt Krankenschwestern in Northumberland - ohne Maske.

Johnson begrüßt Krankenschwestern in Northumberland - ohne Maske.

(Foto: Peter Summers/dpa)

Im Umgang mit der Pandemie tritt der britische Premier des Öfteren etwas sorglos auf. Das zeigt sich auch auf der Klimakonferenz 2021 in Glasgow, als Johnson ohne Maske neben dem 95 Jahre alten David Attenborough sitzt, dieser mit Maske. Jeder müsse doch selbst entscheiden, was er in welcher Situation zu tun habe, sagt Johnson später. Ein anderes Mal besucht der Premier ein Krankenhaus in Northumberland. Er grüßt Krankenschwestern mit dem Ellenbogen und lächelt fröhlich. Eine Maske trägt er nicht. Drei Mal wird Johnson auf die Maskenpflicht hingewiesen, schließlich wird ihm eine gereicht. Ein Oppositionsabgeordneter spricht von einem "Schlag ins Gesicht aller Covid-Kranken".

"Sollen sich halt die Leichen stapeln"

Großbritannien: Boris Johnson und sein früherer Berater Dominic Cummings waren mal enge Vertraute. Das ist lange vorbei.

Boris Johnson und sein früherer Berater Dominic Cummings waren mal enge Vertraute. Das ist lange vorbei.

(Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP)

Immer wieder werden britischen Medien Details aus dem Innenleben der Regierung zugespielt, die den Premier belasten. Die Vermutung liegt nahe, dass dahinter Dominic Cummings steckt, der mal Johnsons wichtigster Berater war. Der Premier war so sehr auf ihn angewiesen, dass er sich sogar hinter Cummings stellte, als dieser die Corona-Regeln während des Lockdowns im Frühjahr 2020 brach und danach behauptete, nichts falsch gemacht zu haben.

Doch Johnson und sein Chefberater zerstritten sich und es entwickelte sich eine Schlammschlacht. Im Oktober 2020 soll der Premier in seinem Arbeitszimmer bei offener Tür im Zorn gerufen haben: "Keine verdammten Lockdowns mehr! Sollen sich halt die Leichen stapeln" ("Let the bodies pile high in their thousands!"). Einige Wochen vorher soll er Lockdowns als "verrückt" bezeichnet und gesagt haben, er wolle das Virus lieber einfach laufen lassen, statt die Wirtschaft zu beschädigen. Wie so oft bestreitet Johnson die Aussagen. "Toter, totaler Blödsinn" sei das alles.

Ein Minister küsst im Lockdown fremd

Großbritannien: Selbst strengen Kontaktverzicht anmahnen und dann eine Beraterin küssen? Das kostet Gesundheitsminister Matt Hancock den Job.

Selbst strengen Kontaktverzicht anmahnen und dann eine Beraterin küssen? Das kostet Gesundheitsminister Matt Hancock den Job.

(Foto: Tolga Akmen/AFP)

Mai 2021, im Vereinigten Königreich gelten strenge Corona-Kontaktregeln. Es ist explizit nicht erlaubt, Menschen zu umarmen, die nicht zum eigenen Hausstand gehören. Doch auf den Aufnahmen einer Überwachungskamera im Büro von Gesundheitsminister Matt Hancock ist dieser in innigem Kontakt mit Gina Coladangelo zu sehen, sie umarmen und küssen sich. Er kennt die Lobbyistin und Beraterin offenbar schon aus Studienzeiten, hat sie selbst eingestellt. Sie wird als Beraterin aus Steuergeldern bezahlt.

Hancock entschuldigt sich bei Johnson. Der erklärt die Angelegenheit für erledigt, eine drastische Fehleinschätzung des Premiers. Die Rufe nach einem Rücktritt des Gesundheitsministers, der immer wieder dazu aufgerufen hatte, den Kontakt zu Mitmenschen einzuschränken, werden auch aus der eigenen Partei lauter. Hancock ist nicht mehr zu halten, er tritt zurück.

Johnson und Peppa Pig

Großbritannien: Nicht jede Rede Johnsons ist ein Erfolg, die Peppa-Pig-Rede erst recht nicht (Symbolbild).

Nicht jede Rede Johnsons ist ein Erfolg, die Peppa-Pig-Rede erst recht nicht (Symbolbild).

(Foto: Ben Stansall/AFP)

Es ist einer der peinlichsten Momente in der Amtszeit des Premiers. Als Johnson bei einer Konferenz im November 2021 als "Keynote Speaker" vor Wirtschaftsvertretern auftritt, erzählt er ausführlich von seinem Besuch im Freizeitpark Peppa Pig World tags zuvor mit seinem Sohn. Er zieht Parallelen zwischen dem Zeichentrickschwein und der Leistungsfähigkeit Großbritanniens. Es soll ein Witz sein, aber er zündet nicht.

Zwischendurch kramt Johnson quälende 30 Sekunden lang in seinen Unterlagen und stammelt immer wieder "Forgive me": Vergeben Sie mir. Er röhrt wie ein Rennauto, als er beschreibt, ein Elektroauto habe eine Beschleunigung wie ein Ferrari, und sagt, er habe wie einst Moses einen Zehn-Punkte-Plan für nachhaltige Energieversorgung geschrieben. Großbritannien schüttelt irritiert den Kopf und der Reporter eines Fernsehsenders fragt ihn später: "Ganz ehrlich, Premierminister, ist alles in Ordnung mit Ihnen?" Johnson antwortet: "Ich glaube, die meisten Leute haben meine Punkte verstanden." Seine Rede sei doch gut gelaufen.

Partygate I: "Bringt euren eigenen Alkohol mit"

Großbritannien: Eigentlich der Eingang zum Amtssitz des britischen Premiers, aber während des Corona-Lockdowns offenbar auch eine Party-Location.

Eigentlich der Eingang zum Amtssitz des britischen Premiers, aber während des Corona-Lockdowns offenbar auch eine Party-Location.

(Foto: Henry Nicholls/Reuters)

In der Downing Street lässt es sich feiern, offenbar auch im Lockdown. Im Mai 2020 lädt Johnsons Büroleiter per E-Mail etwa 100 Mitarbeiter zu einer Gartenparty ein. 30 bis 40 Menschen kommen, auch der Premierminister ist einige Zeit dabei. Erlaubt sind damals aber nur Treffen im Freien mit einer weiteren Person. Johnson entschuldigt sich später, er habe fälschlicherweise angenommen, es handle sich um ein Arbeitstreffen. Eine Feier, bei der in der Einladung steht: "Bringt euren eigenen Alkohol mit"? Klingt nicht nach einem Arbeitstreffen.

Als die Affäre ihn längst in seinem Amt bedroht, ringt Johnson in einem Interview stotternd nach Worten und beteuert: Niemand habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die Veranstaltung gegen die Corona-Auflagen verstoßen könnte. Dabei kann man die Regeln als Regierungschef doch durchaus auch selbst kennen.

Partygate II: Die einsame Queen

Großbritannien: Queen Elizabeth trauert pandemiebedingt alleine um ihren verstorbenen Mann. Am Abend zuvor ging es in der Downing Street hoch her.

Queen Elizabeth trauert pandemiebedingt alleine um ihren verstorbenen Mann. Am Abend zuvor ging es in der Downing Street hoch her.

(Foto: POOL New/Reuters)

Die Party im Mai ist nicht die einzige, die der britischen Öffentlichkeit übel aufstößt. Im Juni 2020 organisiert Johnsons Frau Carrie zu seinem Geburtstag eine Überraschungsfeier mit etwa 30 Gästen, es gibt Kuchen und ein Geburtstagslied. Johnsons Sprecher sagt später, der Premier sei bei dem "spontanen Zusammenkommen nach einem Meeting" lediglich zehn Minuten anwesend gewesen.

Auch für Weihnachtsfeiern in der Downing Street im Dezember 2020 muss sich der Premier rechtfertigen. Besonders laut ist die Empörung aber über eine Feier am 16. April 2021. Am Vorabend der Beisetzung von Prinz Philip, dem Gemahl von Königin Elizabeth II., feiern Berichten zufolge Dutzende Mitarbeiter Johnsons in dessen Amtssitz. Etwa 30 Menschen tanzen trotz strenger Beschränkungen und trinken Alkohol. Die Queen sitzt am nächsten Tag wegen der Kontakt- und Abstandsregeln ganz alleine bei der Bestattung in der Kapelle auf Schloss Windsor. Das Foto der einsamen Queen ist einer der prägenden Eindrücke der Pandemie und berührt die Herzen von Millionen Briten.

Partygate III: Johnson muss zahlen

Großbritannien: Der öffentliche Druck auf Boris Johnson wird immer größer.

Der öffentliche Druck auf Boris Johnson wird immer größer.

(Foto: Frank Augstein/AP)

Die politische Untersuchung der Lockdown-Partys, die Johnson im Dezember 2021 zusagt, als immer mehr Vorwürfe bekannt werden, ist ein Skandal im Skandal. Zunächst beauftragt der Premierminister seinen Kabinettssekretär Simon Case mit der Aufklärung. Nur eine Woche später muss Case zurücktreten, nachdem bekannt wird, dass in seinem Büro selbst eine Party stattgefunden hat. Die Verwaltungsbeamtin Sue Gray wird sodann mit dem Fall betraut. Gray befragt Dutzende Regierungsmitarbeiter, auch Johnson, listet insgesamt 16 fragwürdige Zusammentreffen in Downing Street auf und will ihren Bericht Ende Januar veröffentlichen. Doch dann schaltet sich Scotland Yard ein. Die Partys im Amtssitz des Premierministers sind von diesem Zeitpunkt an eine Polizeiangelegenheit.

Sue Gray veröffentlicht aus Rücksicht auf die polizeilichen Ermittlungen vorerst nur einen stark gekürzten Bericht, aber schon der hat es in sich. Gray spricht von Führungsversagen und schweren Verfehlungen. "Mehrere dieser Versammlungen hätten nicht stattfinden dürfen", schreibt sie etwa. "An den Veranstaltungen, die ich untersucht habe, nahmen Führungsfiguren der Regierung teil." Mitarbeiter seien deshalb davon ausgegangen, dass ihre Teilnahme erlaubt sei. Oder: "In einigen Fällen ist das Verhalten (...) nicht zu rechtfertigen." Einer der interessantesten Sätze lautet jedoch: "Der exzessive Alkoholkonsum am Arbeitsplatz ist zu keiner Zeit angemessen."

Die Führung müsse die Verantwortung tragen, forderte Gray. Viele Menschen seien "bestürzt" über das Verhalten im Herzen der Regierung.

Die Polizei untersucht in den folgenden Wochen zwölf mutmaßliche Lockdown-Partys. Sie verschickt mehr als 100 Fragebogen an Zeugen und erlässt 126 Strafbefehle, die an 83 Personen gehen. Auch Johnson ist einer der Adressaten, allerdings muss er nur einmal zahlen, obwohl er bei mehreren Partys anwesend war.

Partygate IV: Prost, Premier

Großbritannien: Ist das ein Premier auf einer Party? Die Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen, dürfte kompliziert werden.

Ist das ein Premier auf einer Party? Die Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen, dürfte kompliziert werden.

(Foto: ITV NEWS/Reuters)

Der britische Sender ITV veröffentlicht Aufnahmen, die Johnson mit einem gefüllten Glas in der Hand zeigen, mehrere andere Anwesende recken ihre Hände mit Gläsern zum Zuprosten in die Luft. Auf dem Tisch, der in der Mitte der Fotos zu sehen ist, stehen mehrere geöffnete Wein- und Sektflaschen. Die Bilder sollen ITV zufolge bei der Abschiedsfeier für Johnsons ehemaligen Kommunikationschef Lee Cain im November 2020 entstanden sein.

Der "grapschende Tory"

Großbritannien: Chris Pincher war gut vier Monate "Deputy Whip" der Tories im Unterhaus, dann trat er wegen Vorwürfen sexueller Belästigung zurück.

Chris Pincher war gut vier Monate "Deputy Whip" der Tories im Unterhaus, dann trat er wegen Vorwürfen sexueller Belästigung zurück.

(Foto: Aaron Chown/AP)

Am 1. Juli 2022 tritt Chris Pincher von seinem Posten als "Deputy Whip" der Tories im Unterhaus zurück - als solcher war er dafür zuständig, das Verhalten der Abgeordneten im Auge zu behalten und auf Fraktionsdisziplin zu pochen. Diesen mächtigen Posten hatte Johnson erst im Februar Pincher gegeben, der daraufhin maßgeblich dazu beitrug, dass der Premier trotz des Ärgers über die "Partygate"-Affären im Amt blieb. Der Grund für Pinchers Rücktritt: Er soll in einem exklusiven Klub betrunken gegenüber zwei Männern sexuell übergriffig geworden sein, die Medien schreiben vom "grapschenden Tory". Das Problem für Johnson ist dabei nicht zuletzt, dass entsprechende Anschuldigungen Pincher seit Jahren verfolgen und dass sich in den Tagen nach seinem Rücktritt herausstellt, dass Johnson länger davon wusste, als er öffentlich sagte. Am 5. Juli räumt der Premier das ein und bittet um Entschuldigung. Wenig später treten sein Gesundheitsminister Sajid Javid und sein Finanzminister Rishi Sunak zurück. "Die britische Bevölkerung erwartet zu Recht Integrität von ihrer Regierung", schreibt Javid in seinem Rücktrittsbrief, der Premier habe sein Vertrauen verloren.

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