Boris Johnson:Nun mal sachlich

The 2019 Conservative Party Conference - Day 4

Hier riss er sich noch nicht zusammen, im Gegenteil; auch wenn’s auf dem Foto danach aussieht: Boris Johnson am Mittwoch bei seiner Parteitagsrede in Manchester.

(Foto: Christopher Furlong/Getty Images)

Eben noch gefiel sich der Premier darin, einen bösen Scherz nach dem anderen übers Unterhaus zu machen. Dann legt er seinen neuen Nordirland-Plan vor - und umschmeichelt plötzlich Abgeordnete.

Von Cathrin Kahlweit

Boris Johnson ist auf das Parlament nicht gut zu sprechen. In seiner Parteitagsrede in Manchester machte er einen bösen Scherz über das Unterhaus nach dem anderen: Wäre es ein Laptop, würde man beim Googeln immer nur auf das Warte-Zeichen starren. Wäre es eine Schule, würde die Schulaufsicht sie schließen. Und wäre es eine TV-Show wie das Dschungelcamp, hätten die Parlamentarier "uns alle längst aus dem Dschungel rausgewählt. Aber immerhin hätten wir sehen können, wie der Parlamentssprecher gezwungen wird, Känguru-Hoden zu essen."

Die Delegierten johlten. Gleichzeitig hielt im Unterhaus in London die Labour-Abgeordnete Rosie Duffield eine achtminütige Rede, in der sie in einer Debatte über häusliche Gewalt, ohne einmal das Wort "ich" zu sagen, über ihre Ehe mit einem sadistischen Mann berichtete. Ihre Kollegen hörten mit stummem Erschrecken zu.

Selbst Johnson hätte in dieser Debatte wohl keine Witze gemacht oder "Humbug" gerufen. Ansonsten hält er nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg, das Urteil des Obersten Gerichtshofs, das jüngst die fünfwöchige Zwangspause des Parlaments für unzulässig erklärt hatte, sei schon deshalb unsinnig, weil die Abgeordneten mit ihrer geschenkten Zeit nichts anzufangen wüssten. Bis heute hätten sie keine konstruktiven Vorschläge gemacht und sich keine einhellige Meinung zum Brexit gebildet.

Wenn es für ihn sehr gut läuft, dürfte Boris Johnson die Abgeordneten allerdings schon sehr bald brauchen - und zwar auch all jene, die er wegen abweichender Meinungen zu seinem Brexit-Kurs aus der Tory-Fraktion werfen ließ, oder die von ihm als Anhänger des "brudermordenden, antisemitischen Marxisten", Labour-Chef Jeremy Corbyn, bezeichnet wurden. Auch deshalb wohl, meldet der Spectator, habe Johnson in der Kabinettssitzung am Donnerstagmorgen versichert, werde er EU und Opposition in den kommenden Tagen mit "schleimiger Anbiederung" begegnen.

Er hat die Brexiteers bei den Konservativen und die nordirische DUP hinter sich gebracht

Denn: Downing Street hat bekanntlich einen Vorschlag für Nordirland vorgelegt, der Brüssel überzeugen soll, sich auf einen neuen Deal einzulassen. Es sei, sagte Johnson, ein "konstruktiver und vernünftiger" Plan, in dem Großbritannien große Kompromisse mache. Danach bekäme Nordirland einen Sonderstatus, was die Einhaltung von EU-Regeln und Standards angeht, träte aber gemeinsam mit dem Rest Großbritanniens aus der Zollunion aus. Regierung und Parlament von Nordirland hätten alle vier Jahre Gelegenheit, die Regelung zu bestätigen oder zu verwerfen.

Die Reaktionen aus Brüssel und Dublin sind höflich, aber äußerst skeptisch; die EU will sich erst besprechen. Man will nicht schuld sein, wenn die Sache schiefgeht, weiß aber auch, dass der Johnson-Entwurf, den er auf Twitter schon als fertigen, quasi akzeptierten Deal verkauft, mit ehernen Regeln der EU bricht. Bei ihrer Abwägung zwischen zwei Übeln schielen die EU-27 auch nach London. Denn die Entscheidung der EU-27, wie weit man sich auf weitere und intensive Verhandlungen vor dem Gipfel in zwei Wochen einlassen will, hängt - auch - davon ab, wie wahrscheinlich es ist, dass der Premier im Unterhaus eine Mehrheit für einen Deal findet.

Die Frontlinien in London haben sich stark verschoben, seit Theresa May mit dem ursprünglichen Austrittsabkommen gescheitert war. Im Frühjahr hatte sie sich einer Mauer aus Hardlinern in der eigenen Partei und der nordirischen DUP gegenüber gesehen, die den vorliegenden Vertrag als Unterwerfung unter die "Sklavenhalter" in Brüssel bezeichneten und vor allem die Nordirland-Klausel, den sogenannten Backstop, verwarfen. Er trenne Nordirland, das im Binnenmarkt verbleiben sollte, unzulässig vom Rest Großbritanniens ab. Die Opposition war sowieso gegen Mays Deal gewesen, weil er zu hart sei; Labour wollte und will eine sehr enge Anbindung an die EU, die Liberaldemokraten sind für die völlige Absage des Brexits.

Johnson hat nun das Kunststück vollbracht, die Brexiteers in der Tory-Partei und die DUP hinter sich zu bringen. Dabei mag das Versprechen eine Rolle gespielt haben, nach dem Brexit viel Geld in Nordirland zu investieren, vor allem aber die Aussicht, dass Regierung und Parlament in Belfast über die künftige Ausgestaltung der Beziehungen zu Großbritannien mitreden - und die regulatorische Anbindung an den EU-Binnenmarkt kippen können.

Es gibt, außer der DUP, in Nordirland kaum jemanden, der die Regierungsvorschläge begrüßt. Die Sorge, dass es eben doch zu Zollkontrollen und zu neuer Gewalt kommen könnte, ist zu groß. Zudem gibt seit mehr als zweieinhalb Jahren keine Regierung in Nordirland. Und gäbe es eine, hätte die DUP aufgrund der komplizierten Machtverhältnisse, die im Karfreitagsabkommen festgeschrieben sind, praktisch ein Vetorecht über diese Entscheidung. Trotzdem haben auch ein paar Labour-Abweichler der Regierung ihre Stimme zugesichert, weil sie den Brexit endlich erledigt sehen wollen.

Es ist also nicht ausgeschlossen, dass Boris Johnson - sollte ein Deal tatsächlich jemals seinen Weg über Brüssel bis ins Unterhaus finden - um Haaresbreite genau die Mehrheit bekommt, die May nie bekommen hat. Vielleicht war der Premier deshalb am Donnerstagmorgen ungewöhnlich zurückhaltend und sachlich, als er seinen Vorschlag, den bis zur Übermittlung an die EU-Kommission nicht mal das Kabinett gekannt hatte, im Parlament noch einmal erläuterte. Selbst für Corbyn fand Johnson ein paar freundliche Worte, wenngleich die Abgeordneten bitter lachen mussten, als er sich über den "unbotmäßigen Ton" in manchen Redebeiträgen beschwerte. Ganz offensichtlich will Johnson nun, bis Brüssel sich im Detail zu seinem Plan geäußert hat, keinen Fehler machen.

Die Kriegserklärung an das Unterhaus für den Fall, dass Brüssel Nein sagt, lieferte deshalb ein anderer ab: Parlamentsminister Jacob Rees-Mogg. Er verkündete, dass die Regierung das Parlament erneut in die Zwangspause schicke. Die Sitzung mit der Regierungserklärung, vorgetragen in einer Rede der Königin, solle, wie geplant, am 14. Oktober stattfinden. Dafür müsse die Prorogation am Abend des 8. Oktober, also kommenden Dienstag, einsetzen.

Der Oberste Gerichtshof hatte die fünfwöchige Prorogation, die Downing Street im September durchgesetzt hatte, für ungesetzlich erklärt - unter anderem, weil eine so lange Schließung darauf hindeute, dass die Parlamentarier daran gehindert werden sollten, in dieser wichtigen Phase der britischen Geschichte die Regierung zu kontrollieren. Nun soll die Prorogation nur die Länge von ein paar Tagen haben, die üblicherweise vonnöten ist, um das Haus sicherheitstechnisch auf den Besuch der Königin vorzubereiten und den Ministern die Gelegenheit zu geben, die für die Regierungserklärung nötigen Ideen und Projekte für die nächste Sitzungsperiode des Parlaments zu formulieren.

Ungewöhnlich ist die erneute Prorogation dennoch. Denn normalerweise wird das Unterhaus nach Hause geschickt, nachdem eine neue Regierung gewählt wurde, die nun ihre Agenda vorstellen will, oder nachdem die Projekte einer Sitzungsperiode abgearbeitet sind. Viele Abgeordnete sind daher sauer, weil sie Johnson vorwerfen, er benutze die Regierungserklärung und die darin aufgelisteten Versprechen als Plattform für die Tories, um eine Wahl erst vorzubereiten - und ziehe damit die Queen in seinen Wahlkampf hinein.

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