Bolivien ist das ärmste Land Südamerikas, deshalb hat Präsident Evo Morales das Thema "Fortschritt" ganz oben auf die Agenda seines Deutschlandbesuches gesetzt. Er hat Vorverträge zur Lieferung von Gasturbinen unterzeichnet und sich über Windkraftanlagen informiert. Zum Interview im Gästehaus des Hamburger Senats an der Alster empfängt der 56-jährige im typischen Sakko mit Anden-Muster, das Insigne seiner Herkunft. Morales gehört dem Volk der Aymara an, er war mal Lamahirte, Kokabauer und Trompeter in einer Dorfkapelle. Als Staatschef hat er Bolivien verändert: Er hat nach seinem Amtsantritt 2006 die Rohstoffquellen seines Landes verstaatlicht und damit ein bescheidendes, aber wirksames Sozialsystem finanziert. Seitdem kann sich Morales bei Wahlen einer Mehrheit sicher sein.
Der Präsident sei nach dem dicht gedrängten Besuchsprogramm in Deutschland etwas müde, teilt seine Entourage mit, doch er kommt dann schnell in Fahrt - insbesondere, wenn man ihn auf seine Gegner anspricht, die ihm autoritäres und selbstherrliches Verhalten vorwerfen. Es gebe eine Opposition im Land, sagt Morales, aber die sei in der Minderheit. Seit 2006 habe er sechsmal bei Referenden und Wahlen die Mehrheit geholt, zum Teil mehr als 60 Prozent. Wäre das nicht so, wäre er längst weg, sagt er. Im Februar kommenden Jahres will er das Volk erneut abstimmen lassen - über die Möglichkeit, sich für eine weitere Amtszeit zur Wahl zu stellen. Daran findet er nichts verwerflich, es seien die sozialen Bewegungen, die ihn länger im Amt sehen wollten, sagt er.

Bolivien:Zweifel um Pressefreiheit
Boliviens Präsident Morales besucht heute Kanzlerin Merkel. In seiner Heimat ist er sehr beliebt, doch kritische Journalisten müssen Organisationen zufolge um ihr Leben fürchten. Kommt das Thema zur Sprache?
Doch es gibt auch zunehmende Kritik aus den eigenen Reihen. Einer der führenden Soziologen Boliviens, Luis Tapia, behauptet sogar, die Regierung befinde sich in Auflösung, weil sie sie den Rückhalt bei ihren engsten Verbündeten verliere. Indigene Gruppen etwa beklagen die ökologischen und sozialen Schattenseiten des bolivianischen Fortschrittsmodells. Morales hingegen sagt, solcherlei Kritik sei von außen gesteuert, also von Nichtregierungs-Organisationen und der Rechten. Auch den Vorwurf, in Bolivien sei die Pressefreiheit in Gefahr, will er nicht stehen lassen. Diktatur herrsche in Wahrheit in manchen Verlagen und Redaktionen.
Morales will ökologische Produkte exportieren
Morales fühlt sich bestätigt durch vier bis fünf Prozent Wachstum im Land, damit liegt Bolivien an der Spitze der kriselnden Länder Lateinamerikas. Gefahr droht aber durch sinkende Rohstoffpreise, denn trotz einiger Fortschritte im produktiven Sektor ist Bolivien noch immer vom Export von Gas und Mineralien abhängig. Der Handel mit Deutschland ist bislang gering, das zu ändern ist einer der Gründe, warum Evo Morales Deutschland besucht hat. Der Präsident sieht Exportchancen in ökologischen Produkten wie Quinoa oder Stevia. Auch von seinem Traum, eines Tages Koka-Blätter zu exportieren, will der frühere Kokabauer nicht Abschied nehmen. Er verweist auf den medizinischen Nutzen des Blattes, das die Andenvölker seit Urzeiten konsumieren. Eine Droge wird daraus erst durch die chemisch äußerst aufwändige Extraktion des Alkaloids Kokain.
Vor allem die USA drängen trotzdem zu einem Rückbau der Kokaproduktion, doch Bolivien sträubt sich. Evo Morales kritisiert die seiner Ansicht nach unverändert aggressive Politik der Vereinigten Staaten in Lateinamerika, die auch Grund für die augenblickliche Krise der Linksregierungen sei. Bei seinem Amtsantritt 2006 war Bolivien umgeben von Ländern, die dem bolivianischen Projekt gewogen waren. Jetzt steht Morales zunehmend allein da, sogar Kuba verhandelt mit dem einstigen Erzfeind aus Washington. Doch Morales ist zuversichtlich, dass er sich auch weiterhin auf die sozialen Bewegungen verlassen kann, die ihn groß gemacht haben. Er sagt: "Bei uns regiert das Volk, compañero."

