Bolivien:Über Nacht kamen die Stimmen

Bolivien: Gänzlich unerwartete Trendumkehr: Demonstrantin vor der Wahlbehörde im Parlamentssitz La Paz.

Gänzlich unerwartete Trendumkehr: Demonstrantin vor der Wahlbehörde im Parlamentssitz La Paz.

(Foto: Aizar Raldes/AFP)

Präsident Morales erklärt sich nun doch zum Wahlsieger. Die Opposition spricht von Wahlbetrug.

Von Sebastian Schoepp

Und plötzlich sollte es dann doch zum Sieg gereicht haben: Nachdem es eine Nacht und einen Tag lang so ausgesehen hatte, als müsse Boliviens Langzeit-Präsident im Dezember in die Stichwahl gegen den Oppositionskandidaten Carlos Mesa, teilte die Wahlbehörde am Dienstag überraschend mit, der Vorsprung des Amtsinhabers reiche nun doch. Morales habe 46,9 Prozent der Stimmen erreicht, Mesa komme auf 36,7 Prozent. "Wir haben doch noch mal gewonnen", sagte Morales. Zehn Prozentpunkte Vorsprung genügen laut Wahlgesetz, wenn einer der Kandidaten mehr als 40 Prozent erreicht hat.

Zwar wurden danach ständig neue Zwischenergebnisse geliefert, nach denen dann doch wieder eine Stichwahl nötig wäre. Doch die Opposition reagierte sofort: Er werde ein solches Wahlergebnis nicht anerkennen, "denn es ist Resultat eines beschämenden Wahlbetrugs", sagte Rivale Mesa. In mehreren Städten Boliviens kam es danach zu Ausschreitungen. In Potosí, Oruro, Tarija und Chuquisaca zündeten Demonstranten Büros von Morales' Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an. Zwei Mitarbeiter mussten in Potosí aus dem Fenster springen, um sich vor den Flammen zu retten, wie die Zeitung La Razón berichtete. In der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz kündigten einflussreiche Bürgergruppen, die cívicos cruceños, einen unbefristeten Streik an. Die Regierung verhängte dort eine Ausgangssperre und machte die Opposition für Krawalle verantwortlich. Carlos Mesa rufe zur Gewalt auf, sagte Kabinettschef Carlos Romero.

In der Nacht zu Montag hatte die Wahlkommission die Stimmenauszählung gestoppt, als sich die Stichwahl abzeichnete. 24 Stunden später gab sie die neuen Zahlen bekannt. Wahlbeobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zeigten sich besorgt und sprachen von einem "drastischen und unerklärlichen Wandel". Sie verlangten eine Erklärung. Regierungsnahe Kreise wiesen den Vorwurf des Betrugs zurück, Stimmen aus entlegenen Gebieten hätten den Umschwung gebracht, hieß es aus Morales' Umgebung.

Evo Morales klammert sich mit Grund an die Macht

Sheyla Martinez repräsentiert in Santa Cruz 40 regierungsunabhängige Organisationen, die sich unter anderem im August bei der Bekämpfung der katastrophalen Feuer engagierten, die nach einer fatalen Regierungsentscheidung ausgebrochen waren. Morales hatte Kleinbauern Brandrodung erlaubt. Dies und die Aushöhlung der Demokratie hätten seinen Niedergang in der Wählergunst beschleunigt, sagt sie. Am Montag habe es so ausgehen, als habe "die Demokratie in Bolivien gesiegt", weil Morales zu diesem Zeitpunkt nicht genug Stimmen hatte, um die Stichwahl zu vermeiden. Danach sahen Martínez und andere erst mal ihren Verdacht bestätigt, dass bei der Auszählung vieles nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Auch habe Morales im Wahlkampf unfaire Methoden angewandt, er habe Regierungseinrichtungen und Dienst-Hubschrauber benutzt, um für seine Wiederwahl zu werben.

Der 59-jährige Evo Morales klammert sich mit Grund an die Macht. Verliert er sie, muss er womöglich wegen zahlloser Unregelmäßigkeiten während seiner Regierungszeit mit Gerichtsverfahren rechnen - ein häufiges Schicksal lateinamerikanischer Amtsträger. Außerdem muss er befürchten, dass eine rechtskonservative oder wirtschaftsliberale Regierung seine Reformen rückgängig macht.

Wie sie auch ausgehe - in jedem Fall ende mit dieser Wahl ein politischer Zyklus in Bolivien, sagt Sheyla Martínez. Evo Morales kam 2005 an die Macht, als Aufstände und Proteste gegen die wirtschaftsliberale Vorgängerregierung das Land lahmzulegen drohten. Unter Morales bekamen die Indigenen mehr Rechte, er nationalisierte Öl- und Gasvorkommen und ließ die Einnahmen in Sozialprogramme fließen. In letzter Zeit jedoch macht sich wegen sinkender Rohstoffpreise eine Krise breit, was den Unmut trotz Wirtschaftswachstum verstärkt. Ähnlich wie im Nachbarland Chile haben die Armen oft wenig vom Wachstum. Morales' Gegenkandidat setzte auf diesen Überdruss und verfasste den Slogan: "Es ist zu viel." Damit traf er die Gefühle vieler Bolivianer, die Morales in der Vergangenheit mit großen Wahlsiegen ausgestattet hatten.

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