Süddeutsche Zeitung

Bolivien:Denkzettel für Morales

Der erfolgsverwöhnte Präsident galt lange Zeit als unantastbar. Nach der Wahl zeichnet sich ab, dass er sich einer Stichwahl gegen seinen Konkurrenten Carlos Mesa stellen muss. Grund ist eine Fehleinschätzung, die viele Wähler nun bestrafen.

Von Sebastian Schoepp

Die kurze Präsidentschaft von Carlos Mesa haben viele Bolivianer in keiner guten Erinnerung. Er übernahm das Amt 2003, nachdem Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada, wegen seines US-Akzents "El Gringo" genannt, sich in die USA abgesetzt hatte nach eskalierenden sozialen Protesten mit vielen Toten. Carlos Mesa war Vizepräsident gewesen und trat das Amt in stürmischer Zeit an; er mühte sich vergeblich, die immer heftigeren Proteste indigener Gruppen unter Kontrolle zu bekommen und trat 2005 zurück. Nachfolger wurde der indigene Gewerkschaftsführer Evo Morales, der seitdem regiert.

Nun standen sich Morales und Mesa bei der Präsidentschaftswahl wieder gegenüber. Dass ausgerechnet Mesa, ein sehr wenig volkstümlicher, etwas abgehoben wirkender Intellektueller, nur knapp verlor, zeigt, wie stark Morales an Popularität eingebüßt hat. "Wir haben einen Triumph erreicht, den uns niemand nehmen kann", sagte Mesa. Er rechne fest mit einer Stichwahl. Danach sah es nach Auszählung von 80 Prozent der Stimmen am Montag aus.

Für den erfolgsverwöhnten Morales wäre eine Stichwahl eine Demütigung. Je klarer sich diese abzeichnete, desto nervöser agierte die Regierung. In der Nacht zu Montag meldete die BBC, die Auszählung sei unterbrochen worden. Um eine zweite Wahlrunde zu vermeiden, müsste ein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen erreichen - oder 40 Prozent mit einem Vorsprung von zehn Prozent vor dem schärfsten Konkurrenten. Morales lag zu diesem Zeitpunkt bei 45,3 Prozent, Mesa bei 38,2.

Der Präsident erklärte sich trotzdem schon mal zum alleinigen Sieger, eine Stichwahl sei nicht nötig. Fakt ist, dass seine sozialistische Partei ihre absolute Dominanz im Parlament eingebüßt hat.

Morales kann nicht von der Macht lassen. Dafür haben ihn die Wähler bestraft

Die Beliebtheitswerte von Morales, der 2014 noch 61 Prozent der Stimmen holte, sind gesunken, weil der 59-Jährige nicht vom Amt lassen kann. Er hat die Verfassung gebeugt, um vier Mal antreten zu können. Es gab vor allem in der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz Massenproteste gegen ihn. Auch am Sonntag wurden hundert Demonstranten festgenommen. Viele der indigenen Gruppen und Basis-Organisationen, die ihn einst starkgemacht haben, beschuldigen Morales, die Demokratie ausgehöhlt zu haben. So werde ihm etwa vorgeworfen, öffentliche Mittel zweckentfremdet zu haben, um Wahlkampf zu betreiben, sagt Sheyla Martínez, Koordinatorin eines Netzwerks von 40 regierungsunabhängigen Organisationen. Richtig eskaliert ist die Kritik nach den verheerenden Feuern im Urwald im August, die seine Regierung selbst verursacht hatte, weil sie Kleinbauern erlaubte, Trockenwald abzufackeln.

Morales hat in Bolivien mit seinem Andensozialismus zahlreiche Reformen durchgesetzt, die der armen und indigenen Bevölkerung zugutekamen. Die Armut ist gesunken, Gesundheitssektor und Bildung wurden gestärkt. Dank seiner Bodenschätze wie Lithium steht Bolivien wirtschaftlich gut da. Morales selbst hält sich für unverzichtbar, er warnte vor einer Rückkehr der Herrschaft der weißen Oberschicht, zu der auch Gegenkandidat Mesa gehört. Verlöre er die Wahl und damit die Immunität, müsste Morales mit Verfahren rechnen. Kommt es im Dezember zur Stichwahl, könnte entscheidend sein, wen der Drittplatzierte empfiehlt. Das ist Chi Hyun Chung, ein in Südkorea geborener presbyterianischer Prediger, der versprach, Bolivien für Gott zurückzuerobern und gegen Feminismus und Homosexualität wetterte. Dr. Chi, wie er genannt wird, holte knapp neun Prozent der Stimmen. Sein Aufstieg zeige, wohin Bolivien nach dem Ende der Ära Morales steuern könne, sagt Sheyla Martínez.

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SZ vom 22.10.2019
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