Bolivien:Che Guevaras Erbe

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Bolivien stimmt per Plebiszit über eine neue Verfassung ab, weil Präsident Evo Morales dem Land das Ende der Apartheid verordnet.

Sebastian Schoepp

In Bolivien residiert der Präsident im Palacio Quemado, dem "Verbrannten Palast". Der heißt so, weil er im Jahr 1875 von Oppositionellen mit Fackeln in Brand gesteckt wurde. Bolivien ist ein leicht entflammbares Land geblieben. 1946 stürmte ein Mob den Palast und hängte den Präsidenten Gualberto Villarroel auf der Plaza Murillo an einem Laternenpfahl auf.

Boliviens Präsident Evo Morales soll für eine bessere Zukunft sorgen. (Foto: Foto: Reuters)

Im Oktober 2008 versammelten sich auf der Plaza wieder Zehntausende Menschen, Indios, Tagelöhner, Marktweiber und Minenarbeiter, die Dynamitstangen in die Luft warfen. Tagelang waren sie aus den Anden anmarschiert, um Druck auf das Parlament zu machen, das gerade die neue Verfassung debattierte. Eine brenzlige Situation.

Doch im Palacio Quemado regierte einer, der sich nicht hinter der kolonialen Fassade verschanzte. Der Präsident ging hinaus auf den Platz, mischte sich unters Volk und versicherte, dass alles gutgehen würde. Es waren ja auch seine Leute da draußen, und es war sein Projekt, da drinnen im Parlament. Evo Morales ist der erste Präsident Boliviens, der der indigenen Bevölkerungsmehrheit entstammt. Die neue Verfassung soll das Land aus dem Zustand der De-facto-Apartheid herauszuführen, in der es jahrhundertelang verharrte.

Die Opposition, vielleicht aus Einsicht, vielleicht das Bild des armen Villarroel vor Augen, ließ den Entwurf nach ein paar Korrekturen passieren. Dann sangen alle die Nationalhymne, viele - auch der Präsident - hätten geweint vor Erschöpfung und Erleichterung, erinnert sich die Abgeordnete Elizabeth Salguero. Es war einer dieser Momente tränentriefenden lateinamerikanischen Symbolismus', die meist Momente bleiben. Diesmal könnte es anders sein. Am 25. Januar wird das Volk über die Verfassung abstimmen, mit 60 Prozent Zustimmung wird gerechnet. Seitdem herrscht wieder Frieden in La Paz. Vorläufig.

Lynchjustiz und Lamahirten

Um zu verstehen, was da passiert, muss man vom Parlamentssitz ein paar hundert Meter nach oben steigen, was schwerfällt, weil die Luft auf 4000 Meter Höhe immer dünner wird. Den Menschen in El Alto ("Die Höhe") macht das nichts aus. Sie werkeln und basteln und bauen unermüdlich an einem besseren Leben. Fast alle sprechen Aymara oder Quechua. Von ihrem stetig wachsenden Millionendorf aus hat man nachts die Sterne zu Füßen: Es sind die funkelnden Lichter von La Paz, das in einem Talkessel liegt. Über allem thront der schneebedeckte Illimani, 6439 Meter hoch, ein Gott.

El Alto ist die möglicherweise größte No-nonsense-Stadt der Welt. Es gibt dort nichts Überflüssiges, nur Ziegel, Schrauben, Balken, Reifen, gebratene Hühner. Und Farbe. Die wird gebraucht, um grün, gelb, rot auf die unverputzten Wände zu schreiben: Danke, Evo! Evo ja! Gemeinsam mit Evo! Evo triumphiert! Evo erfüllt seine Versprechen!

Evo hat versprochen, dass die neue Verfassung die Lebenswelt dieser Menschen abbilden wird. In der Präambel findet sich deshalb eine Art andiner Pursuit of Happiness, gekleidet in fremdartig-mysteriöse Begriffe: Ama qhilla, ama llulla, ama suwa (Du sollst nicht faulenzen, lügen und stehlen), teko kavi (Du sollst gut zusammenleben), ñandereko (Die Suche nach harmonischem Leben), ivi maraei (Erde ohne Böses), qhapaj ñan (Der Weg der Inkas zur Weisheit).

Warten aufs Ende

Roberto Aguilar sagt, das sei historisch, das habe es in Bolivien noch nie gegeben. Er war Vizepräsident der Versammlung, die die Verfassung ausgearbeitet hat. Die Plurinationalität des Landes werde erstmalig festgeschrieben, was heißen soll: Alle sind gleich, die Kambas, die Weißen, und die Kollas, die Indio-Mehrheit. Dass sich jetzt die ausgegrenzt fühlen, die die letzten 500 Jahre das Sagen hatten, versteht Aguilar nicht. "Sehen Sie mich an, ich fürchte mich nicht vor den Menschen vor meiner Tür."

Aguilar stammt aus der Schicht intellektueller urbaner Mestizen, er sieht aus wie ein Spanier, raucht dunkle Zigaretten, war Professor für Wirtschaftsgeschichte. Diejenigen, die die "Rache der Indios" fürchteten, sagte er, könnten nur nicht damit leben, "dass da nun ein Indio im Palacio Quemado" regiert.

Auch vor der indigenen Rechtsprechung, die recht rabiat sein kann, brauche niemand Angst zu haben, versichert Aguilar. "Lynchjustiz ist keine indigene Rechtsprechung, sondern einfach Lynchjustiz." Angewendet wird die Lynchjustiz derzeit auch eher von den weißen Latifundienbesitzern und ihren politischen Helfershelfern in den Tieflandregionen, die die Guaraní-Indios wie Leibeigene halten. Den reichen Nachfahren europäischer Einwanderer zu vermitteln, dass nun jeder Staatsangestellte neben Spanisch eine der mehr als 30 indigenen Sprachen Boliviens beherrschen muss, wird allerdings schwierig.

Durchsetzen muss das Roberto Aguilar selbst, womit er nicht gerechnet hätte. Wenige Tage nach dem Gespräch beruft Morales ihn zum Erziehungsminister. "Ziemlich überraschend, auch für mich", wie Aguilar in einer E-Mail schreibt. Das kann einem in diesem neuen Bolivien leicht passieren, dass man mit jemanden spricht, der am nächsten Tag etwas ganz anders macht oder ist. Erstaunliche Karrieren sind möglich. Im Parlament wimmelt es von den Frauen mit grauen Bowler-Hüten und bunten Röcken, die sonst an der Straße Gurken und Erdnüsse verkaufen.

Und dann gibt es Leute wie Martin Sivak. Der Journalist wäre fast Botschafter in Buenos Aires geworden. Seine Befähigung: Er ist Argentinier und kannte Evo Morales, als der noch ein Indio im Exil war, mit dem außer Sivak niemand reden wollte. Doch der Journalist entschied sich, dem neuen Bolivien auf seine Art zu dienen, er hat eine Biographie über den Präsidenten geschrieben, die schildert, wie der "Evismo" funktioniert.

"Jefazo" heißt das Buch, was man frei mit Big Boss übersetzen kann. Mit "Jefazo" redet der Präsident - in Umdrehung der Tatsachen - jeden an, der ihm über den Weg läuft, ob Minister, Journalist oder Fußballer. "Jefazo" beschreibt einen 49-jährigen, schlaflosen, ungeduldigen, unverheirateten, fußballverrückten ehemaligen Lamahirten und Kokabauern, der von allen nur Evo genannt wird. Der besser Aymara spricht als Spanisch, der von den bolivianischen Schergen der US-Drogenpolizei Dea gefoltert und aus dem Parlament geworfen wurde - bis er sich an die Spitze derer stellte, die so leben, wie er lebte. Journalist Sivak war auf den ersten Staatsbesuchen des Präsidenten dabei, musste sich in Lagos in der Präsidentensuite mit einem Minister das Bett teilen, weil das weniger kostet.

Che Guevara als Vorbild

Wenn er eine Eingebung hat, lässt Evo Morales seine Minister auch mal mitten in der Nacht antreten. (Foto: Foto: AP)

Wenn er eine Eingebung hat, lässt Morales seine Minister gerne mal um 5 Uhr morgens antreten. Er besetzt Ölanlagen, weil er Geld braucht, um die neuen Renten zu zahlen, nach denen die Alten, Schwachen, Zerlumpten Schlange stehen. Die Ruptura de Formalidades, den Bruch mit den Formalitäten der postkolonialen Klassengesellschaft, hält Sivak als Kennzeichen des Evismo fest. Diese Lässigkeit und Durchlässigkeit hat Evos "Movimiento al Socialismo" von der renitenten Splittergruppe in ein schlagkräftiges Regierungsbündnis verwandelt.

Es führt den Links-Intellektuellen Álvaro García Linera mit der Feministin Elizabeth Salguero, den christlichen Anwalt David Balderrama und der Indigenen Sabina Aureliana zusammen. Es eint sie das Foto des Jefazo, das im Parlament unter ihrer Schreibunterlage klemmt und das ihnen beim Abstimmen zuschaut.

Das zweithäufigste Bildnis in der Volksvertretung zeigt einen, von dem Morales sagt: "Ohne ihn wäre ich nicht hier." Es dürfte kein zweites demokratisches Parlament auf der Welt geben, in der so viele Che-Guevara-Plakate hängen. Es ist, als hätten sie etwas gutzumachen an Che, der ihnen schon 1967 die Revolution bringen wollte und den sie umkommen ließen im Urwald. Nun wollen sie es besser machen.

Die guatemaltekische Historikerin Marta Casaus sagt: "Die klassische Linke hat nie kapiert, dass es Rassismus in Lateinamerika gibt, sie hat immer gesagt, das sei ein Problem der Klassen, sie hat den Rassismus unsichtbar gemacht." Evo macht ihn sichtbar, in seiner Person, bis heute. In Santa Cruz im reichen Tiefland schreien sie, der "schwule Indio-Präsident in La Paz" solle seine eigene Indio-Republik aufmachen. Einige Wochen befand sich Bolivien am Rande des Bürgerkriegs, in letzter Minute machte Evo Zugeständnisse, etwa das Privateigentum zu achten.

Es könnte Nachahmer geben

Ob die Einheit dieses Bolivien zu halten ist, fragen sich trotzdem viele. Dass Evo überhaupt so weit kam, hat er vielleicht einem Rat von Fidel Castro zu verdanken: "Mach es nicht so wie ich, mach es demokratisch. Das waren andere Zeiten damals, wir hatten alle gegen uns. Heute hast du Lula, Kirchner, Chávez, die helfen dir." Evo konnte nur groß werden aus der Deckung des nach links driftenden Lateinamerika. Die frühere kolumbianische Geisel Ingrid Betancourt empfiehlt Bolivien nun als Vorbild zur Befriedung ihres Landes.

In Staaten mit indigener Mehrheit wie Peru könnte sein Beispiel Nachahmer finden - sofern sie so einen finden wie ihn. Bisher haben sie ihn nicht. Die indigene Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú verlor die Wahl in Guatemala kläglich. Als Barack Obama zum US-Präsidenten gewählt wurde, sagt Morales: "Ich freue mich, dass jetzt auch die USA einen Präsidenten haben, der einer lange diskriminierten Bevölkerungsgruppe angehört." Ist Morales ein indigener Obama? "Eher ein Nelson Mandela", meint der argentinische Publizist Roberto Herrscher. "Er muss viel weiter unten anfangen."

Zu Morales gebe es derzeit keine Alternative, sagt Jorge Carrasco. Der Satz kommt ihm nicht leicht über die Lippen, denn seine Zeitung, El Diario, lässt kein gutes Wort am Präsidenten. Wie sein Verbündeter Hugo Chávez in Venezuela regiert Morales gegen die geballte Macht der Traditionspresse. Morales' Stärke sei aus der Schwäche seiner Vorgänger zu erklären, sagt Verleger Carrasco. Er findet, der Staat mische sich zu stark in die Wirtschaft ein, die Geschenke an die Armen hätten ja schon in Europa nicht funktioniert. Wie es sein könne, dass im Erdölförderland Bolivien der Diesel knapp werde? Carrasco sagt, er sei in Sorge um die Pressefreiheit. Journalisten würden angegriffen, weil sie kritisch zu Morales stünden. "Hier ist alles nur noch Politik, Politik, Politik."

Irina Chambi Michel im Büro für Außenhandelsbeziehungen hat ein paar nüchterne Statistiken und eine ebensolche Meinung. "Wir können nicht in einer Welt der Ungleichheit leben", sagte sie, "aber wir können auch nicht zum Sozialismus vergangener Tage zurückkehren." Die Exporterlöse seien im letzten Jahr zwar gestiegen, aber nur durch höhere Rohstoffpreise, die nun zusammenbrechen. Bolivien müsse lernen zu produzieren anstatt nur auszugraben, was im Boden liege. Das alte lateinamerikanische Problem.

Je weiter man in La Paz nach unten kommt, desto weniger Indigene sieht man. In der Zona Sur gibt es Malls nach US-Vorbild, Pizzerien, eine Plastikwelt aus Reklameschildern. In der Zona Sur hofft man, dass, wenn Evo dereinst verschwindet, auch der Indio-Spuk vorbei sein könnte. Deshalb hat sich die Opposition erst zur Zustimmung zur Verfassung überreden lassen, als Evo im Gegenzug auf eine dritte Amtszeit verzichtete. Die alten Eliten haben lange genug regiert, um zu wissen, wie kurzlebig sozialrevolutionäre Projekte in Bolivien sein können. Die erste indigene Versammlung berief 1943 der Militär-Präsident Gualberto Villarroel ein, was ihn kurzzeitig sehr populär machte - bevor er am Laternenpfahl endete.

© SZ vom 14.1.2009/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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