Niemand habe ein größeres Interesse als der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), die Vorgänge rund um den Fall von Kabul aufzuklären, sagte Bruno Kahl. Er ist der Präsident des Bundesnachrichtendienstes und musste am Donnerstag als Zeuge vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages aussagen. Der Dienst habe über Jahrzehnte ein dichtes Bild über die Lage in dem Land am Hindukusch geliefert, an die Bundesregierung und die Bundeswehr. Das habe des Öfteren dazu beigetragen, Leben zu retten, sagte der BND-Chef. Auch habe der BND korrekt vorhergesagt, dass die Taliban ein „Emirat 2.0“ errichten würden. Im Großen und Ganzen, so der Subtext, habe sich der BND nichts vorzuwerfen.
Eine Fehleinschätzung sei dem Dienst allerdings unterlaufen: Wie schnell die Islamisten Kabul einnehmen würden – kampflos überdies. „Was wir nicht korrekt vorausgesehen haben, ist das Drehbuch, das auf den letzten Zentimetern abgelaufen ist“, sagte Kahl. Allerdings lassen die Fragen des Ausschussvorsitzenden Ralf Stegner (SPD) und auch anderer Abgeordneter deutlich erkennen, dass eben diese letzten Zentimeter – oder vielmehr letzten Stunden – die entscheidenden waren.
Eine Übernahme Kabuls vor dem 11. September galt als unwahrscheinlich
Vieles in der Anhörung Kahls und seiner damaligen Vizepräsidentin Tania Freiin von Uslar-Gleichen dreht sich um die Sitzung des Krisenstabs der Bundesregierung am 13. August 2021, 36 Stunden bevor die Taliban in Kabul einrückten. Eine Übernahme der Hauptstadt vor dem 11. September beurteilte der BND damals noch als „eher unwahrscheinlich“, wie im Protokoll festgehalten ist. Das heißt, er maß dem Szenario einer Einnahme nur eine Wahrscheinlichkeit von 20 bis 50 Prozent zu. Die Abgeordneten im Ausschuss halten das der Spitze des Auslandsnachrichtendienstes mehrmals vor. Allerdings war damit, so stellen es die beiden BND-Zeugen dar, nur die militärische Eroberung Kabuls durch die Taliban gemeint – nicht die kampflose Übernahme.
Kahl und Uslar-Gleichen, die damals im Krisenstab vortrug, verwiesen darauf, dass der BND fünf sogenannte Kipppunkte benannt habe. Sollten diese eintreten, würde das den Annahmen der Lageeinschätzung „den Boden entziehen“. Das habe vor allem für die vom BND aufgestellten Zeithorizonte gegolten, die sich an dem von US-Präsident Joe Biden angekündigten endgültigen Abzugsdatum der US-Truppen orientierten: dem 11. September 2021. Allenfalls sei man von einem Ende der US-Präsenz am 31. August ausgegangen.
Die fünf vom BND identifizierten Kipppunkte seien die nahezu vollständige Isolierung Kabuls gewesen, ebenso der Fall von Provinzhauptstädten in Gebieten, die an Kabul grenzen, wie Kahl ausführte. Zudem Absetzbewegungen der afghanischen Führung, der Abzug der US-Truppen oder der US-Botschaft aus der Grünen Zone in Kabul sowie der Abzug anderer westlicher Botschaften. Auch in der Betrachtung im Nachhinein hätte der BND nicht sehen können, dass gleich mehrere dieser Kipppunkte in den Stunden nach der Sitzung eintreten würden, erklärte Kahl. „Einen Hinweis darauf, dass es so schnell gehen würde, gab es nicht“, bekräftigte er. „Das ging dann einfach zu schnell“, sagte Uslar-Gleichen.
Im Widerspruch zum stellvertretenden Botschafter
Außerdem ging der BND davon aus, dass die Lage in Kabul weniger prekär sei als in den Provinzen. Schließlich waren hier die fähigsten Einheiten der afghanischen Sicherheitskräfte stationiert. Auch deshalb habe man nicht mit einer so schnellen Übernahme der Stadt gerechnet, sagte Kahl. Seine ehemalige Vize von Uslar-Gleichen sagte, man habe sich auf die militärischen Kräfteverhältnisse zwischen den Taliban und der afghanischen Armee konzentriert, weniger auf die Frage, wie lange die afghanische Regierung durchhalten würde oder die Streitkräfte für die Republik kämpfen würden. Präsident Ashraf Ghani hatte das Land am 15. August verlassen.
Im Krisenstab der Bundesregierung gab es den Aussagen nach auch keine Debatte über die Einschätzung des BND, die in deutlichem Widerspruch stand zu dem, was der stellvertretende Botschafter in Kabul, Jan Hendrik van Thiel, berichtete. Er sprach davon, dass sich die Geländegewinne der Taliban auswirkten auf die Sicherheitslage in Kabul und auch dass Amerikaner und Briten Botschaftspersonal an den Flughafen verlegten. Diese Widersprüche blieben ungeklärt. Der BND forschte zwar intern nach, ob es Informationen von Partnerländern gebe. Denn van Thiel hatte von „anderer Intel“ geredet, die er habe – also Geheimdiensterkenntnisse, vielleicht aber auch Informationen aus Gesprächen mit Diplomaten. Gefunden haben man aber auch im Nachhinein nichts, was die Lageeinschätzung umgestoßen hätte, führte Kahl aus.
Allerdings ergibt sich daraus die Frage, ob diese Kipppunkte, die zum ersten Mal in der Sitzung am 13. August im Ressortkreis der Bundesregierung vorgetragen wurden, als Frühwarnindikatoren überhaupt tauglich waren. Das gilt umso mehr, weil der BND, wie aus Akten hervorgeht, intern davon ausging, drei der fünf Faktoren erst feststellen zu können, wenn sie bereits eingetreten sind. Kahl selbst führte aus, dass die Amerikaner die Schließung ihrer Botschaft nicht kommuniziert hätten, um ein Wettrennen zum Flughafen zu vermeiden. Allerdings war die Botschaft, auf deren Gelände ja auch die BND-Mitarbeiter angesiedelt waren, im Bilde, dass die Amerikaner und andere westliche Staaten ihr Botschaftspersonal reduzierten.
Die Grünen-Abgeordnete Sara Nanni sagte der Süddeutschen Zeitung, der BND habe das Instrument der Kipppunkte erst sehr spät eingebracht und dann auch nicht in Echtzeit beobachtet, ob es Anzeichen dafür gab, dass sie bald eintreten. Für sie bleibe der Eindruck, die Arbeitsweise des BND sei „für den Informationsgewinn in akuten Krisen nicht geeignet“.
Kahl hielt dem entgegen, Kipppunkte seien auch früher schon in schriftlichen Analysen definiert worden. Den Begriff habe er aber auch erst um den 10. August herum erstmals wahrgenommen. Für Kahl scheint das größte Problem zu sein, dass Ministerien die Verantwortung auf den BND hätten abschieben wollen, etwa der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD). Er dagegen habe sich an Mahnungen aus dem Kanzleramt gehalten, sich nicht an gegenseitigen Schuldzuweisungen zu beteiligen.