Inferno von Black Tom 1916:Als in New York 1000 Tonnen Munition explodierten

Explosion auf Black Tom vor 100 Jahren

Blick von "Black Tom" zur Freiheitsstatue heute.

(Foto: dpa)

Im Ersten Weltkrieg kam es zur gewaltigsten Explosion in einer US-Großstadt. Deutschland zahlte später Entschädigung - aber war es wirklich Sabotage?

Von Oliver Das Gupta

New York am 30. Juli 1916. Um kurz nach 2 Uhr morgens schrecken alle Einwohner hoch. Es kracht gewaltig. Fensterscheiben zerbersten in Manhattan, Brooklyn und im nahen New Jersey. Der Himmel ist hell erleuchtet, Wolkenkratzer wackeln, Metallteile schlagen in die Freiheitsstatue ein.

Die Erschütterung ist so heftig wie ein Erbeben von 5,5 auf der Richterskala - eine Wucht, die 30 Mal gewaltiger ist als der Einsturz des World Trade Centers bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

1916 herrscht in den Straßen von New York Panik, die Menschen trauen sich nicht mehr in ihre Häuser zurück. In fünf benachbarten US-Bundesstaaten ist der Knall zu hören. Es ist die gewaltigste Explosion in einer amerikanischen Stadt aller Zeiten. Und die Schuld daran tragen angeblich die Deutschen.

70 Zugwaggons mit Kriegsfracht

Ort des Infernos ist Black Tom, ein kleines Eiland im Hafen von New York. Dort ist heute ein Park angelegt. Dort kann man flanieren und hat einen guten Blick auf die Freiheitsstatue, die einige hundert Meter weiter über das Wasser ragt.

Vor 100 Jahren gehört Black Tom zum Hafen. Auf die Insel führen Eisenbahnschienen, Lagerhäuser sind dort gebaut, dazu sechs Piers, über die in jenen Tagen vor allem ein Handelsgut verschifft wurde: Munition, sehr viel Munition. Dort stehen zum Zeitpunkt der Explosion 70 Zugwaggons mit Kriegsfracht. 1000 Tonnen Rüstungsgüter fliegen in dieser Nacht in zwei großen Explosionen in die Luft.

1916 tobt der Erste Weltkrieg genau zwei Jahre, aber nicht in New York. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind neutral, doch sie sind in das große Gemetzel auf dem alten Kontinent indirekt involviert. Für Schlachten wie in Verdun benötigen die Kriegsparteien Unmengen an Material - und die amerikanischen Fabriken produzieren im großen Stil Patronen und Granaten.

Durch die wirksame Kontinentalsperre der Briten kommen Deutschland und Österreich-Ungarn nicht an die begehrten Rüstungsgüter. Dafür kaufen die Kriegsgegner Großbritannien, Frankreich und ihre Verbündeten in großem Stil ein. Hauptumschlagplatz ist Black Tom Island.

Die Explosion reißt einen gewaltigen Krater in die Insel, der Schaden wurde damals auf 20 Millionen US-Dollar taxiert - was heute fast 420 Millionen Euro entspricht. Angesichts der Katastrophe wirkt es fast überraschend, dass nur fünf Menschen sterben (andere Quellen sprechen von sieben).

Ist es ein Unfall? Haben Wächter auf der Insel allzu großzügig die Ölöfen befeuert, um den Mückenschwärmen Paroli zu bieten? Oder handelt es sich um einen Anschlag? Schon unmittelbar nach der Schreckensnacht werden Stimmen laut, die Sabotage vermuten. "Die Behörden untersuchen, ob die Explosion einem Anschlag von Deutschen zuzuschreiben ist", schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten schon am 1. August 1916. Empört notiert die SZ-Vorgängerzeitung, die Nachrichtenagentur Reuters versuche, dem Kaiserreich die Schuld "in die Schuhe zu schieben".

"Ich kaufe, was ich kann. Den Rest sprenge ich in die Luft"

Tatsächlich gilt die Black-Explosion in der vorherrschenden Lesart als Sabotageakt deutscher Agenten. Um den Nachschub für die Feinde zu stoppen, sollen sie das Munitionsdepot gesprengt haben. Mehrere Bücher beschäftigen sich mit dem Plot und den zum Teil recht schillernden Deutschen, die darin verstrickt sein sollen.

Da war ein Chemiker, der Öl zu Pulver verwandeln konnte und eine Opernsängerin, deren Anwesen ein Agententreff gewesen sein soll. Da war Franz von Rintelen, ein Haudrauf, der an der deutschen Botschaft akkreditiert ist. Mit seinen "Füllfederhalterbomben", die er an Bord von Schiffen schmuggelte, soll er mehr als 30 Schiffe zerstört oder beschädigt haben. Ihm wird mit Blick auf Munition der Spruch zugeschrieben: "Ich kaufe, was ich kann. Den Rest sprenge ich in die Luft."

Und da war Franz von Papen, der Militärattaché an der Botschaft in Washington DC. Der hochmütige Adelige, der später Adolf Hitler zur Kanzlerschaft verhelfen sollte, war - ebenso wie Rintelen - zum Zeitpunkt der Explosion längst schon nicht mehr in den USA. Aber von Papen soll angeblich die Fäden im Hintergrund gezogen haben - was er Zeit seines Lebens pikiert bestritt.

Spätere Ermittlungen sprechen davon, dass ein slowakischer Einwanderer mit zwei weiteren Handlangern für das Höllen-Spektakel gesorgt haben soll. Er wurde allerdings der New York Times zufolge wieder laufen gelassen - die Beweislage war zu dünn. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine deutsch-amerikanische Kommission eingesetzt. 1939 kam sie zu dem Schluss, dass Berlin für die Explosion verantwortlich sei. Die letzte Rate der 50-Millionen-Dollar-Entschädigung zahlte die Bundesrepublik 1979.

Aber handelte es sich wirklich um Sabotage? Es gibt einschlägige Literatur zu dem Fall, es gibt den Spruch der Kommission von 1939, und es gibt viele Artikel, die sich darauf festlegen.

Doch es gibt nach wie vor Zweifel, dass die Deutschen es wirklich waren. Denn was nach wie vor fehlt, ist ein Beweis. Die New Yorker Strafverfolger schlossen seinerzeit sogar aus, dass es sich um einen Anschlag einer fremden Macht handelte. Kein Mensch wurde je für den Anschlag verurteilt. Und selbst im fernen Berlin fand sich bislang offenbar kein Papier, das irgendeinen Aufschluss über eine solche Aktion geben könnte, geschweige denn ein Frohlocken des Kaisers, der ansonsten alles Mögliche kommentierte.

Ob es wirklich Sabotage war, bleibt letztendlich offen. Die Historikerin Carmela Karnoutsos wies vor einigen Jahren die New York Times darauf hin, den Schuldspruch der Kommission von 1939 im zeitlichen Kontext zu sehen. Man dürfe das "Klima" während der Hearings nicht vergessen, sagte die New Yorker Professorin. Die Zustände waren damals krisenhaft, die deutsch-amerikanischen Beziehung eisig; wenig später begann Hitler-Deutschland den Zweiten Weltkrieg.

Der Kaiser ließ Angriffspläne für Boston und New York ausarbeiten

Kein Zweifel: Die Explosion von Black Tom war sicherlich im Sinne des Kaisers und seines Gefolges. Der säbelrasselnde Wilhelm II. ließ ja sogar schon vor dem Weltkrieg heimlich Angriffspläne auf Boston und New York ausarbeiten.

Letztendlich schadete das Inferno vor 100 Jahren Berlin. Die deutschenfeindliche Stimmung wuchs in der amerikanischen Bevölkerung, die Nachfahren deutscher Einwanderer assimilierten sich noch schneller. Wenige Monate später wurde ein geheimes Telegramm des deutschen Außenstaatssekretärs Arthur Zimmermann publik, in dem er die Mexikaner zu einem Angriff auf die USA überreden wollte. Daraufhin trat Amerika auf Seite der Entente in den Krieg ein, der damit entschieden war.

Wie sehr sich die Black-Tom-Explosion in den Köpfen der Washingtoner Entscheider fortsetzte, zeigte sich 1941. Nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor ließ US-Präsident Franklin D. Roosevelt 100.000 japanischstämmige Amerikaner internieren. Zur Begründung soll er gesagt haben: "Wir wollen keine weiteren Black Toms".

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