Süddeutsche Zeitung

Birma:Mehr als eine Million Tote befürchtet

Apokalyptische Szenen in Birma: Hunger, überfüllte Notunterkünfte, drohende Seuchen. Die Hilfsorganisation Oxfam befürchtet, dass in Birma noch mehr als eine Million Menschen sterben könnten.

Als Folge des verheerenden Zyklons befürchtet die Hilfsorganisation Oxfam ein Massensterben in Birma, wenn die Überlebenden nicht umgehend mit sauberem Wasser und Sanitäranlagen versorgt werden. Bei den unhygienischen Zuständen in den behelfsmäßigen Notunterkünften sei der Ausbruch von Seuchen nur noch eine Frage der Zeit, warnte die Direktorin für Ostasien, Sarah Ireland, am Sonntag in Bangkok.

"Mehr als 100.000 Menschen sind wahrscheinlich tot, und alles deutet auf eine weitere Katastrophe hin, die diese Zahl um ein 15-faches erhöhen könnte" , sagte sie. Oxfam ist eine weltweit tätige Hilfsorganisationen, allerdings ist sie in Birma nicht registriert.

Birmas Militärregierung geht offiziell weiter von rund 23.000 Toten und 37.000 Vermissten aus. Ein BBC-Reporter, der eine Kamera in das Irrawaddy-Delta geschmuggelt hat, zeigte am Sonntag Aufnahmen aus einem Krankenhaus. Ohne Wasser, ohne Strom und ohne Medikamente versuchen dort ein Arzt und wenige Schwestern, Tausende Opfer zu versorgen. "Die Situation ist völlig außer Kontrolle", sagte der Arzt Saw Simon Tha.

"Wir haben unzählig viele Patienten und keine Medikamente." Hunderte Menschen lagen dort dichtgedrängt und oft nur noch halb bei Bewusstsein auf dem Boden. Neben Erschöpfung haben viele Patienten auch inzwischen schwer entzündete Wunden an Armen und Beinen.

Die Opfer des Zyklons seien schon stark geschwächt, weil es nicht genug zu Essen gebe und sie verseuchtes Wasser trinken müssten, sagte Ireland von Oxfam. Damit wachse die Gefahr von Cholera- und Typhusausbrüchen täglich. Zudem säßen viele Menschen in den Notunterkünften auf engstem Raum zusammen. Dort bestehe große Gefahr für die Ausbreitung von Masern, Lungenentzündung und Diphtherie.

In den Überschwemmungsgebieten brüteten jetzt Milliarden von Fliegen und Moskitos, die Malaria und Dengue-Fieber übertragen können. "Wir sorgen uns um Millionen Männer, Frauen und Kinder, die von dem verheerenden Zyklon getroffen wurden", so Ireland weiter. "Wir können den Menschen helfen, aber dafür müssen die Behörden die Visabeschränkungen aufheben und die Helfer in die betroffenen Gebiete lassen", sagte sie.

Die Militärjunta weist Vorwürfe zurück, das die Hilfe die Opfer nicht erreiche. Das seien Gerüchte, sagte der stellvertretende Außenminister U Kyaw Thu nach einem Bericht des Staatsorgans Neues Licht von Birma, das etliche Bilder von angeblich eintreffenden Flugzeugen mit Hilfsgütern zeigte. Alles werde umgehend ins Katastrophengebiet gebracht.

Tatsächlich gab das Regime am Wochenende Lieferungen des Welternährungsprogramms (WFP) mit Energiekeksen frei. "Ein positives Zeichen", kommentierte WFP-Sprecher Marcus Prior in Bangkok." Die Flughafenbehörden waren richtig kooperativ."

In Thailand und Malaysia stehen am Flughafen tonnenweise Nahrungsmittel, Zelte und Medikamente bereit. Die Hilfsorganisationen warten auf Genehmigungen, nach Rangun zu fliegen. Dort hatte das Militär am Freitag Lieferungen des Welternährungsprogramms WFP beschlagnahmt. Es will die Hilfe allein verteilen - eine Praxis, die die Hilfsorganisationen ablehnen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Militär Rationen zur Versorgung der eigenen Soldaten abzweigt.

Die Weltgemeinschaft verstärkte unterdessen den Druck auf die Militärjunta in Birma: UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief die Machthaber auf, Hilfsorganisationen "ohne jede Behinderung" so schnell wie möglich ins Land zu lassen. Er habe versucht, direkt mit der Regierung zu sprechen, doch sei ihm das bisher nicht geglückt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bestärkte Ban Ki Moon in einem Telefonat am Samstag darin, sich um eine Kontaktaufnahme zur Regierung in Birma zu bemühen, um Hilfslieferungen in das Katastrophengebiet zu ermöglichen. In einer Regierungsmitteilung hieß es, Merkel und Ban bezeichneten die Weigerung der birmanischen Regierung, mit den internationalen Hilfsorganisationen zusammenzuarbeiten, als "unakzeptabel".

Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: "Die internationale Gemeinschaft hat die Verantwortung und das Recht, Menschen in Not zur Seite zu stehen, auch wenn die eigene Regierung sich dagegen sträubt."

Auch Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) sagte der Zeitung: "Man kann nicht zusehen, wie die Menschen in einer solchen Notsituation völlig im Stich gelassen werden." Wenn es Organisationen wie der Welthungerhilfe nicht gelinge, Zugang zu den Zyklon-Opfern zu bekommen, müsse über einen Beschluss des Sicherheitsrats nachgedacht werden.

China hat zuletzt ein Eingreifen des Sicherheitsrats verhindert. Frankreich hatte sich um eine Beratung der Lage in Birma bemüht und dabei auf einen vor drei Jahren gefassten Beschluss der Staatengemeinschaft verwiesen, Zivilisten auch dann zu schützen, wenn die jeweilige Regierung ihrer Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung nicht nachkommen will oder kann. Das Konzept schließt auch eine Intervention unter Verletzung der nationalen Souveränität ein. Die Militärregierung will Hilfslieferungen annehmen, sie aber selber verteilen.

Frankreich kündigte unterdessen an, für Hilfsgüter ein Kriegsschiff einzusetzen. "Wir haben entschieden zu handeln, ohne weiter zu warten", sagte Außenminister Bernard Kouchner der Zeitung Le Figaro. Mit dem Kriegsschiff Mistral sollen 1500 Tonnen Hilfsgüter in das südasiatische Land geschickt werden. "Die Hilfe wird direkt an die Betroffenen verteilt (...)", sagte Kouchner. "Es kommt nicht in Frage, die Hilfe direkt an die Junta zu liefern."

Offenbar will Frankreich damit verhindern, dass die Militärs auch aus den französischen Hilfslieferungen politisches Kapital schlagen. Das birmanische Staatsfernsehen hatte Bilder gezeigt, wie Generäle, darunter auch der Chef der Militärjunta, General Than Shwe, Kisten an Überlebende der Sturmkatastrophe verteilten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Junta beim Referendum massive Wahlfälschungen betrieben hat.

Auf einer Kiste war beispielsweise der Name von Generalleutnant Myint Swe zu lesen. Die dicke Aufschrift überdeckte den kleineren Aufdruck "Hilfe aus dem Königreich Thailand".

Durch den Wirbelsturm kamen am vergangenen Wochenende nach Angaben der Junta 23.000 Menschen ums Leben. Die Vereinten Nationen rechnen inzwischen jedoch mit bis zu 100.000 Toten. Fast zwei Millionen Menschen sind von Hunger, Durst und akuter Seuchengefahr betroffen.

Wahlbetrug bei Referendum

Dessen ungeachtet haben die Menschen in Birma am Samstag über eine neue Verfassung abgestimmt, mit der die Militärjunta ihre Macht zementieren will. Nur in den am schlimmsten von der Katastrophe betroffenen Bezirken wird in zwei Wochen nachgewählt.

Erste Ergebnisse des Verfassungsreferendums in Birma lassen auf eine hohe Zustimmung für den von dem Militärregime vorgelegten Entwurf schließen. Augenzeugen und Kommunalbeamte, die am Samstag die Stimmenauszählung überwachten, sprachen von einer durchschnittlichen Billigung der Vorlage zwischen 80 und 90 Prozent.

Allerdings berichteten birmanische Oppositionskräfte im Exil am Sonntag von massiven Wahlfälschungen. Mitarbeiter der Oppositionspartei "Nationalliga für Demokratie" (NLD) hätten am Samstag in allen Landesteilen Einschüchterungen, Nötigungen und direkte Fälschungen beobachtet, hieß es von der Organisation "US-Kampagne für Birma", einer Gruppe von Exil-Birmanen in den USA, die Kontakt zur Opposition im Land hält.

Im Bezirk Kyone Pyaw in der Irrawaddy-Region seien seit Freitag Lautsprecherwagen durch die Straßen gefahren, die jedem, der mit Nein stimmen wollte, mit drei Jahren Haft- und Geldstrafen drohten, teilten Beobachter mit.

Im Karen-Gebiet hätten Wähler bei der Ankunft im Wahllokal festgestellt, dass in ihrem Namen schon gewählt worden war. Im Pegu-Bezirk rund 100 Kilometer nördlich von Rangun hätten die Leiter der Wahllokale darauf bestanden, dass die Menschen vor ihren Augen mit "Ja" stimmten. In einem Wahllokal mit 412 abgegebenen Stimmen sei zunächst öffentlich ausgezählt worden, berichteten die Beobachter.

Nachdem nur 15 Stimmen für und 37 gegen die Verfassung registriert worden waren, sei die Auszählung abgebrochen und hinter verschlossenen Türen fortgesetzt worden. "Das Referendum war unfair, wie wir vorausgesehen hatten", teilte Aung Din von der "US-Kampagne für Birma" mit. Die Opposition werde trotz Einschüchterungen nicht ruhen und den Wahlbetrug offenlegen. "Der Widerstand geht weiter", so Aung Din.

Junta rechnet mit Sieg

Die Junta stellte unterdessen einen überwältigenden Sieg in Aussicht. Fast 100 Prozent der Wähler in Kokogyun bei Rangun hätten mit Ja gestimmt, 90 Prozent in der Region Mandalay und 95 Prozent in der Shan-Region, sagte ein Beamter in Rangun der Nachrichtenagentur dpa.

Die Weltöffentlichkeit hatte zuvor die Junta des verarmten Landes aufgerufen, das Referendum vollständig abzusagen und sich auf die Hilfe für die Opfer zu konzentrieren.

Kritiker der birmanischen Militärjunta haben zudem den Verfassungsentwurf als undemokratisch und unfair zurückgewiesen. In den betroffenen Gebieten soll die Wahl jetzt am 24. Mai nachgeholt werden. Vorher werden vermutlich keine offiziellen Ergebnisse veröffentlicht.

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