Biographie über Genscher:Meister mit Engelszunge

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Die Lorbeeren für die deutsche Einheit bekam allein Helmut Kohl. Sein Außenminister rückte an den Rand. Die Biographie des Diplomaten Hans-Dieter Heumann zeigt, wie viel Einfluss Hans-Dietrich Genscher tatsächlich hatte.

Bernhard Küppers

Eine neue Biographie spricht Hans-Dietrich Genscher noch mehr Verdienst um die deutsche Einheit zu, als ohnehin schon angenommen wird. Geschwinder als andere, auch als der "Kanzler der Einheit" Helmut Kohl, habe der Außenminister Chancen für eine Vereinigung Deutschlands erkannt, schreibt der deutsche Diplomat Hans-Dieter Heumann.

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Umverteilung von Verdiensten: Eine neue Genscher-Biographie spricht dem ehemaligen deutschen Außenminister einen noch größeren Anteil an der deutschen Einheit zu, als dies bislang üblich war.

(Foto: dpa)

Sein Buch zeigt das Geschick, mit dem Genscher das nötige Beziehungsgeflecht gepflegt und notfalls auch repariert habe - zumal wenn Helmut Kohl ausländische Partner mit Äußerungen oder unpassenden Vorstößen irritiert hatte. Der Autor, im vergangenen Jahrzehnt Gesandter an den Botschaften in Paris und Washington, hatte für die Biographie Zugang zu noch gesperrten Akten des Auswärtigen Amts.

Genscher erkannte früher als Kohl, dass Gorbatschows Reformpolitik mehr als Taktik war. Kohl hatte sie zunächst noch als "public relations" abgetan und gar mit Goebbels' Propaganda verglichen. Nach diesem Affront hat der Generalsekretär in Moskau Kohl fürs Erste geschnitten. Währenddessen rief Genscher 1987 dazu auf, Gorbatschow "ernst" und "beim Wort" zu nehmen. Er wurde Moskaus bevorzugter Kontakt über seinen guten Draht zu Außenminister Eduard Schewardnadse.

Mit dem Georgier sprach Genscher auch vor seinem Auftritt auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Damals konnte er 4000 DDR-Flüchtlingen auf dem Gelände verkünden, dass sie in Sonderzügen durch die DDR ausreisen dürften.

Für 200 DDR-Flüchtlinge in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin hatte es zuvor statt Ausreise nur eine straffreie Rückkehr nach Hause gegeben. Der Chef des Bundeskanzleramts, Rudolf Seiters, zuständig für die Beziehungen zur DDR, hatte die Vertretung geschlossen. Als die DDR das Gleiche von der besetzten Botschaft in Prag verlangte, lehnte Genscher ab.

Während der UN-Vollversammlung schilderte er Schewardnadse die Lage. "Äußerst betroffen" sagte Schewardnadse Unterstützung zu. "Ihm ist es wohl zu verdanken, dass die Regierungen in Ostberlin und Prag schließlich auf den Druck aus Moskau reagierten", meint Heumann. Unerwähnt lässt er, dass neben Genscher auf dem Balkon Seiters stand. Beider Vorarbeit war eine Parallelaktion gewesen.

Nach dem Fall der Mauer im November 1989 entschloss sich Kohl (CDU), in Konkurrenz zu seinem Stellvertreter Genscher (FDP) die "Meinungsführerschaft" in Sachen deutsche Einheit zu übernehmen. Ohne Absprache mit den westlichen Verbündeten, Gorbatschow und sogar Genscher trat Kohl mit einem Zehn-Punkte-Plan "zur Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands" vor den Bundestag.

Der innenpolitisch bedrohte Gorbatschow war ungehalten und steigerte sich gegenüber Genscher in seinem Zorn über das "äußerst gefährliche" Vorgehen Kohls bis zum Vorwurf eines "waschechten Revanchismus". Der Vermerk über die Moskauer Unterredung blieb im Auswärtigen Amt unter Verschluss.

Als einen "Glücksfall der Diplomatie" feiert das Buch, wie Genscher 1990 die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte zu ihrem Erfolg führte: dem "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland".

Vor allem die Zusammenarbeit mit Schewardnadse und US-Außenminister James Baker sei "lückenlos" gewesen. Die britische Premierministerin Thatcher suchte indes bis zum Schluss die Verhandlungen zu torpedieren. Schewardnadse pflegte später in Anspielung auf den sowjetischen Diktator Stalin und sich zu scherzen: "Ein Georgier hat Deutschland geteilt, ein Georgier hat es vereint."

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