Süddeutsche Zeitung

Biografie:Irrtum vom freien Markt

Lesezeit: 3 min

Das Hauptwerk des linken Sozialhistorikers Karl Polanyi "The Great Transformation" aus dem Jahr 1944 wurde erst spät zu einem Klassiker. Gareth Dale hat das Leben des Erfinders der "Einbettung" der Ökonomie beschrieben.

Von Claus Leggewie

Wenn Karl Marx gerade als letzter Schrei gilt und andererseits die Konservative Revolution aus der Mottenkiste geholt wird, erkundet man gerne dritte Wege. Diese beschritten unkonventionelle Autoren der Linken, die in keine Schule und Schublade passten, wie Karl Polanyi (1886-1964). "The Great Transformation", das Hauptwerk des noch in der k.u.k. Monarchie geborenen und im roten Wien tätig gewordenen Wirtschaftsjournalisten und Sozialhistorikers erschien 1944 im Exil, im gleichen Jahr wie die "Heilige Schrift" der Neoliberalen, Friedrich August von Hayeks "The Road to Serfdom". Polanyi zog aus der totalitären Verirrung nicht den Schluss seines gut zehn Jahre jüngeren Landsmannes, man müsse die Märkte von ihren staatlichen Ketten lösen, sondern sie im Gegenteil einbetten in eine am Gemeinwohl ausgerichtete Gesellschaft.

Die "Wiedereinbettung" der Märkte fordert eine Wirtschaftslehre, die Gesellschaft nicht zur individualistischen Fiktion herabstuft, mit der politischen Pointe, dass die Utopie entfesselter Märkte zwangsläufig zu wirtschaftlichen Krisen und politischen Katastrophen führt. Marktgesellschaften bilden keinen "Naturzustand", sie sind das Resultat politischer Entscheidungen über Eigentumsrechte, Arbeitsbedingungen, Handelsverträge und Finanzinstitutionen. "Laissez-faire war geplant" (Polanyi).

Der in London lehrende Politikhistoriker Gareth Dale, der schon mehrere Abhandlungen und Editionen zu Polanyi vorgelegt hat, entfaltet dessen Ideen nun aus dem biografischen Kontext einer assimilierten jüdischen Herkunftsfamilie. Polanyi und sein jüngerer Bruder Michael, ein bekannter Wissenschaftstheoretiker, gehörten wie der Soziologe Karl Mannheim, der Philosoph Georg Lukács, der Biologe Leo Szilard, der Informatiker John von Neumann und der Komponist Béla Bartók einer goldenen Generation an. 1907 musste Karl die Budapester Universität nach Auseinandersetzungen mit antisemitischen Kommilitonen verlassen; in der Provinz gründete er den linken Galilei-Kreis und wurde Mitglied der Radikalen Partei seines Mentors Oscar Jaszi. Entkräftet durch den Dienst bei der Kavallerie ging er nach Wien, wo er seine lebenslange Partnerin Ilona Duczynska traf und als Wirtschaftsjournalist Erfolg hatte. Im roten Wien erlebte und pries er die Chancen eines demokratischen Gemeindesozialismus - der in der Großen Depression zusammenbrach und dem Austrofaschismus Platz machte.

Sein Hauptwerk "The Great Transformation" (1944) wurde erst spät zu einem Klassiker

Wie ungezügelte Marktideologen in Krisenzeiten Demokratien beschädigen und ruinieren können, war die zentrale Erfahrung seines Lebens. Polanyi emigrierte 1935 nach London, wurde zu Vortragsreisen in die USA eingeladen und lehrte am Bennington College und an der Columbia University. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als sozialistische Ideen und der egalitäre Wohlfahrtsstaat rehabilitiert waren, verfasste er in fortgesetzter Fehde mit Hayek, Ludwig von Mises und anderen Ultraliberalen die "Große Transformation", die sich zunächst kaum verkaufte und erst spät zum Klassiker wurde. Eine Suhrkamp-Übersetzung von 1973 war jüngst der wirtschaftswissenschaftliche Bestseller eines Online-Händlers, Michele Cangiani und Claus Thomasberger haben 2002-2005 im Metropolis-Verlag eine vorzügliche Quellenedition vorgelegt. Konzepte wie embeddedness oder decommodification haben die Reise durch die Sozial- und Kulturwissenschaften angetreten.

Als Linker schwankte Polanyi zeitbedingt zwischen der Verteidigung der Sowjetunion, der reformerischen Fabian Society und einem christlich inspirierten Sozialismus. So geriet er ideologisch zwischen alle Stühle, zerstritt sich auch mit seinem Bruder und widmete sich stärker anthropologischen Themen. Die große Aktualität seiner wirtschaftshistorischen Betrachtungen, die im Detail überholt und verfehlt sein mögen, beruht auf der neuerlichen "Entbettung" der Märkte im gegenwärtigen Finanzkapitalismus, in dem sich zunehmend - von Washington bis Ankara - Plutokraten und Autokraten verbünden und einen neuen Faschismus hervorbringen können, wenn verunsicherte Massen die demokratische Kultur zerstören.

In diese Richtung zielt das jüngste Buch des US-Publizisten Robert Kuttner, Herausgeber der den linken Demokraten nahestehenden Zeitschrift The American Prospect. Als erklärter Polanyianer propagiert er gegen den globalen Raubtierkapitalismus eine linke Spielart des Wirtschaftsnationalismus, bei der man nicht sicher sein kann, ob ihm der Kosmopolit Karl Polanyi zustimmen würde.

Polanyi starb 1964 in Kanada. Ein Jahr zuvor war er noch mit seiner Frau nach Budapest gereist, wo er an eben jener Eötvös Loránd-Universität vortrug, die den "linken Juden" einst von sich gestoßen hatte. Und wo die akademische Freiheit erneut akut bedroht ist.

Claus Leggewie ist Inhaber der Ludwig Börne-Professur an der Universität Gießen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4019080
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.06.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.