Biografie:Wie ein Historiker für den Freispruch Kissingers trommelt

Biografie: Selbstbespiegelung: Ein Idealist? Ein Realist? Ein Kriegstreiber? Henry Kissinger (rechts) im Gespräch mit US-Präsident Richard Nixon im Jahr 1972.

Selbstbespiegelung: Ein Idealist? Ein Realist? Ein Kriegstreiber? Henry Kissinger (rechts) im Gespräch mit US-Präsident Richard Nixon im Jahr 1972.

(Foto: AFP)

War der frühere US-Außenminister gut oder böse? Niall Ferguson schreitet zur Verteidigung - und legt eine monumentale Biografie der Über-Figur Henry Kissinger vor.

Rezension von Stefan Kornelius

Zweifellos herrscht kein Mangel an Büchern von und über Henry Kissinger. Die Auswahl ist so überwältigend, dass sie zwangsläufig in einer Verwirrung enden muss: Was genau also sollte man lesen, um diesen Mann zu verstehen und fair beurteilen zu können? Zur schieren Masse kommt die nicht nachlassende Polarisierung im politischen Urteil. Henry Kissinger scheint immer noch alles gleichzeitig zu sein: Faust und Mephistopheles, Machiavelli und Kant, Metternich und Wilson. Kissinger hat wahrlich eine beeindruckende Bandbreite zu bieten, die vom vermeintlichen Kriegsverbrecher bis zum Friedensnobelpreisträger reicht. Von dieser Art Mensch gibt es nicht viele auf der Welt.

Nun kommt also im 93. Lebensjahr dieser Über-Figur eine Biografie auf den Markt, die erstens den Stempel "offiziell" trägt und zweitens mit mehr als eintausend Seiten auch haptisch einen monumentalen Anspruch erhebt. Dabei endet sie im 45. Lebensjahr Kissingers, mit dem Antritt seines ersten Regierungsamtes. Die Knüller-Jahre stehen also noch aus - und werden in einem zweiten Band bearbeitet. Über dessen Umfang will man gar nicht nachdenken.

Es soll ein für allemal Klarheit über den wahren Doktor Kissinger herrschen

Der Biograf, der illustre britische Historiker Niall Ferguson, wurde von Kissinger selbst gebeten, dessen Lebenswerk aufzuschreiben. Als Anreiz wurde ihm Zugang zu vielen neuen Dokumenten geboten, vor allem aus der privaten Sammlung Kissingers, also Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Redemanuskripte, nicht veröffentlichte Aufsätze, Buchfragmente. Ferguson, einem großen Wurf und der Nähe zu großen Namen niemals abgeneigt, hat außerdem mit einem Mitarbeiterstab in einhundert Archiven weltweit eine beeindruckende elektronische Datei rund um die Person Kissinger und dessen Zeit aufgebaut.

An historischer Feuerkraft fehlte es also nicht, an Nähe auch nicht und offensichtlich vor allem nicht am Willen, ein für allemal Klarheit zu schaffen über den wahren Doktor Kissinger. Der müsste ohne sein robustes Selbstbewusstsein schon längst an einer Persönlichkeitsspaltung leiden, nähme er sich die Deutungskakofonie zu Herzen.

Ferguson treibt den Kissinger-Wahnsinn freilich noch ein paar Umdrehungen weiter, indem er seinem Buch den Untertitel "Der Idealist" gibt und damit das Leitmotiv benennt, das seine Arbeit durchzieht: Nein, Kissinger sei eben nicht der eiskalte Realist, der Macht über alles stellt und gewissenlos handelt. Vielmehr handele es sich bei ihm um einen Idealisten im Sinne Kants, einen von der Geschichtsphilosophie des deutschen Denkers durchdrungenen Akteur, der all sein Handeln den großen Sehnsüchten des Menschen unterordnet: Freiheit und Gerechtigkeit, dem Drang zum ewigen Frieden.

Wer jetzt lächelt, kennt seinen Kissinger nicht, denn in der Tat war der junge Wissenschaftler und Harvard-Professor einer der eminenten Denker seiner Zeit, ein Mann, der politische Philosophie und Geschichtsphilosophie mit großen Löffeln verschlang und zur Grundlage seiner Arbeit machte. Kissinger beweist in seinen Texten, auch den späten Büchern, dass sein Antrieb stets aus der Spannung seiner idealistischen Ziele und dem pragmatischen, sehr kühl abwägenden Realismus seiner politischen To-do-Liste herrührt.

Ferguson trägt deshalb dick auf, wenn er immer wieder die Spuren des Idealisten freilegt und mithilfe seiner unendlichen Zitatesammlung die These untermauert. Das hat prompt die großen Namen der politischen Theorie auf den Plan gebracht, die dem Historiker eine Lektion in Realismus- und Idealismus-Forschung verpassen wollen. Der Streit ist wissenschaftlich unterhaltsam, legt aber auch die zentrale Schwäche Fergusons offen. In seinem Wunsch, ein für allemal die Schlangengrube um Kissinger zu deckeln, wuchtet Ferguson eine gewaltige Grabplatte in die Höhe. Er ist so sehr verliebt in seine These, dass er gar nicht merkt, wie er selbst taumelt und in die Grube zu stürzen droht. Ob er dort auch wirklich endet, kann der Leser erst nach Band zwei wissen, der allerdings ohne eine Beschreibung des Realisten Kissinger sehr schmal ausfallen dürfte.

Der Autor trommelt an die Richterbank

Tatsächlich ist Kissinger beides: Realist und Idealist. Er baut seine sehr kühle und kalkulierende Außenpolitik auf ein beeindruckendes gedankliches und geschichtsphilosophisches Fundament. Es ist Fergusons Verdienst, diese prägende Lebensphase in der Wissenschaft aus allen Perspektiven durchdrungen zu haben. Davor schildert er ausführlich die Kindheit Kissingers in Fürth, die Flucht der Familie in die USA, die emotionsarme Entkopplung des jüdischen Emigranten von seiner einstigen Heimat, die er dann als Soldat in ebenso kühler Distanz (aber mit klarem Blick) bald wiedersehen sollte.

Hier liegen die Stärken des Buches, weil der Mensch Kissinger noch zu sehen ist, der später immer mehr hinter Texten, Briefen, Dossiers, strategischen Analysen und taktischen Spielchen verschwindet. Kissinger, der Großmeister der Vieldeutigkeit, immer wieder neu zu interpretieren, immer mysteriös aber auch spannend, reift heran. Sichtbar wird aber auch eine Zeit, in der die Beziehung zwischen Staaten von Mittels- und Gewährsmännern, Strippenziehern, Telegrammschreibern und spekulierenden Diplomaten gestrickt wurde. Eine Zeit, die Kissinger mit erfunden hat.

Den Freispruch für Kissinger wird es so schnell nicht geben

Kissinger, das wird schnell klar, beherrschte das Spiel in den Hinterzimmern der Macht. Seine eigene Macht steigerte er, indem er die politische Unterwerfung verweigert und so mühelos zwischen den Lagern oszilliert. Vielleicht war er deshalb auch so überrascht, als ihm Präsident Richard Nixon 1968 den Posten des Nationalen Sicherheitsberaters anbot.

Vorausgegangen war allerdings eine Episode, die außer der Idealisten-Kontroverse den zweiten Streit um dieses Buchs auslösen wird. Kissinger wird beschuldigt, im aufgeregten Revolutionsjahr 1968 die in Paris laufenden Friedensgespräche zwischen den vietnamesischen Kriegsparteien für ein mieses wahltaktisches Manöver genutzt zu haben. Er soll Details der Gespräche an Nixons Lager weitergereicht haben, das dann seinerseits Einfluss auf die südvietnamesischen Verhandler nahm. Der Deal: Wenn die Südvietnamesen zögern, bekommen sie nach der Präsidentschaftswahl von Nixon bessere Konditionen.

Die These gehört zur Anklageschrift der Kissinger-Gegner, und Ferguson spart nicht an Papier, sie zu widerlegen. In geradezu epischer Breite schildert er die Rolle Kissingers bei den Pariser Gesprächen 1968 (unbedeutend) und seine Naivität im Umgang mit den vietnamesischen Verhandlern in den Jahren zuvor. Er beschreibt überzeugend die logischen Brüche in der Anklage gegen Kissinger und trommelt geradezu an die Richterbank mit dem Begehr nach einem Freispruch. Besonders überzeugend ist seine Analyse der Motive der Vietnamesen selbst.

Den Freispruch wird es freilich so schnell nicht geben. Ferguson ist Anwalt und Kronzeuge in einer Person, seine Beweisführung - nicht nur in Sachen Vietnam - ist erschlagend und detailreich. Aber er überfordert seine Leser. Besessen hetzt er von Zitat zu Zitat, von Namen zu Namen - und unterschätzt dabei das Bedürfnis, auch einmal die Sache aus sicherer Distanz betrachten zu wollen. So gerät das Buch zu einer Munitionskammer für alle, die sich auf die letzte Deutungsschlacht um die Person Henry Kissinger einstellen. Sie werden Ferguson lesen müssen. Wer ein faires Urteil in Kurzform erwartet, muss sich noch gedulden.

Biografie: Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist 1923-1968. Aus dem Englischen von Werner Roller und Michael Bayer. Propyläen-Verlag, Berlin 2016, 1120 Seiten. 49 Euro.

Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist 1923-1968. Aus dem Englischen von Werner Roller und Michael Bayer. Propyläen-Verlag, Berlin 2016, 1120 Seiten. 49 Euro.

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