Bildungspolitik:Kretschmann überrascht mit einem Systemangriff

Pressekonferenz vor Schulbeginn

Eltern haben mitgezählt: Im Großraum Stuttgart gebe es Schüler, bei denen dieses Schuljahr 14 Prozent des Unterrichts ausgefallen seien.

(Foto: Caroline Seidel/dpa)
  • Baden-Württembergs Ministerpräsident fordert den Bund auf, Investitionen in Schulen künftig über eine Neuverteilung der Steuern zu ermöglichen.
  • Die Länder bekämen mehr Geld, der Bund würde Einfluss auf inhaltliche Fragen verlieren.
  • Kretschmanns Haltung könnte für die Bundesregierung zum Problem werden, weil sie seine Unterstützung im Bundesrat benötigt.

Von Stefan Braun, Berlin, und Paul Munzinger

Die Wut des Herrn kommt in kleinen Dosen. Als Winfried Kretschmann am Dienstagmittag vor die Medien tritt, fängt er ganz sanft an und endet mit einer radikalen Forderung. Der grüne Ministerpräsident aus Stuttgart ist nach Berlin gekommen, um den vielen Befürwortern eines stärkeren Zentralismus wenigstens ein Mal die Leviten zu lesen.

Kretschmann will, was die meisten Politiker im Bund ablehnen: Er möchte nicht länger von ein paar Bundeshilfen leben, zum Beispiel bei der Bildung, sondern will für die Länder künftig grundsätzlich ein größeres Stück von den Steuereinnahmen haben. Kretschmann argumentiert mit Artikel 106 Absatz III des Grundgesetzes und betont, dieser Passus schaffe genügend Freiraum, um die Gemeinschaftssteuern neu aufzuteilen. Im Kretschmann'schen Sinne natürlich zugunsten der Länder.

Das klingt harmlos, käme aber einer kleinen Revolution gleich. Würde der Bund sich darauf einlassen, künftig Investitionen in die Schulen über eine Neuverteilung der Steuern zu ermöglichen, dann würde er beinahe jeden Einfluss auf inhaltliche Fragen verlieren.

Die Wahrscheinlichkeit ist also äußerst gering, dass sich Berlin darauf einlassen wird. Kretschmann aber ficht das nicht an. Im Gegenteil. Er will bei seinen Kollegen in den Ländern dafür werben. Und er begründet das mit scharfen Worten. So kritisiert er "das süße Gift" der Bundesprogramme, die "die Zuständigkeiten vermengen und die Verantwortlichkeiten vermischen". Außerdem seien sie zeitlich befristet und würden ob der unterschiedlichen Bedürfnisse oft gar nicht passen. Wer das fortsetze, degradiere die Bundesländer zu "Verwaltungsprovinzen". Das komme für ihn nicht infrage.

Kretschmanns Auftritt in Berlin zum Beginn der Haushaltswoche ist nicht zufällig gewählt. Der Bund will sich künftig stärker an der Finanzierung der Bildung beteiligen, das haben Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag beschlossen. Die Bundesregierung will dafür aber nicht die Steuerverteilung neu aushandeln, sondern das Grundgesetz ändern. Artikel 104c sieht bislang vor, dass der Bund die Länder finanziell unterstützen darf, wenn es sich um bedeutende Investitionen in die Bildungsinfrastruktur handelt - aber nur in finanzschwachen Gemeinden. Weil er es in allen anderen eben nicht darf, wird diese Regelung vielfach als Kooperationsverbot bezeichnet. Diese Einschränkung soll gelockert werden, indem das Wort "finanzschwach" ersatzlos gestrichen wird.

Der Bund hätte dadurch deutlich mehr Spielraum, um Länder und Kommunen zu unterstützen; er könnte so zum Beispiel die digitale Ausstattung der Schulen verbessern. Der sogenannte Digitalpakt sieht für diesen Zweck insgesamt fünf Milliarden Euro vor, davon 3,5 in dieser Legislaturperiode. Und die Mehrheit der Länder ist deshalb bislang bereit, dem Bund dafür auch mehr inhaltliche Mitsprache einzuräumen. Kretschmann aber sieht in der geplanten Grundgesetzänderung einen "Frontalangriff auf die föderale Struktur".

Der Vorschlag von FDP und Grünen geht in die völlig andere Richtung

Sein Widerstand könnte für die Bundesregierung zum Problem werden, weil sie das Grundgesetz nicht allein ändern kann. Dafür ist eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig. Die große Koalition verfügt über beides nicht. Sie braucht Partner. Doch während die Grundgesetzänderung Kretschmann zu weit geht, geht sie anderen nicht weit genug: der FDP und den Grünen im Bund.

Anfang September hatten die Fraktionschefs beider Parteien im Bundestag Kanzlerin Angela Merkel einen Brief geschrieben, in dem sie ihre Unterstützung für eine Lockerung des Kooperationsverbots signalisierten. Allerdings machten sie deutlich, dass ihnen die geplante Änderung nicht weit genug geht, würde diese dem Bund doch weiterhin nur Finanzhilfen in die Bildungsinfrastruktur erlauben - "Investitionen in Beton und Chips" also. Diese müssten aber ergänzt werden durch "Investitionen in die Köpfe von Lernenden und Lehrenden". Konkret soll der Bund auch die Ausbildung von Lehrern und die Entwicklung von Lerninhalten mitfinanzieren, wie FDP-Generalsekretärin Nicola Beer am Dienstag im Deutschlandfunk ausführte.

Zudem kritisiert die FDP, dass der Bund die Digitalisierung der Schulen nicht dauerhaft finanziere; nach den fünf Milliarden soll Schluss sein. Doch die "große Aufgabe Digitalisierung", sagt Beer, sei keine, "die in ein, zwei Jahren aufhört".

Darin sind sich Grüne und FDP mit Kretschmann einig: Die Länder brauchen mehr Geld, und das auf Dauer. Doch während Kretschmann die Länderhoheit in der Bildung bewahren will, ist das, was Grüne und FDP vorschlagen, tatsächlich ein "Frontalangriff". Es würde das Kräfteverhältnis zwischen Bund und Ländern massiv zugunsten Berlins verschieben. Und das ist auch so gewollt. FDP-Chef Lindner hatte bereits 2017 geschrieben, dass Länder und Kommunen durch die Aufgaben im Bildungsbereich überfordert seien. Die Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern sei "nicht mehr Teil der Lösung, sondern längst zum Problem geworden".

Die Leidtragenden des neu entflammten Streits könnten die Schulen sein. Die damalige Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hatte schon 2016 mit großer Geste den Digitalpakt angekündigt, um die oft dürftige digitale Ausstattung der Schulen zu verbessern. Seither warten die Schulen. Die Schuld für die Verzögerungen will sich Kretschmann trotz seiner Initiative gleichwohl nicht geben lassen. Da seien andere in der Verantwortung, sagt er. "Den Schuh lasse ich mir nicht anziehen."

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