Bildungspolitik:Gut gemeint, schlecht gemacht

Inklusion: Die Politik, nicht nur in NRW, hat die Kosten der Reform schwer unterschätzt. Sonderpädagogische Bildung in allen Schulen anzubieten, braucht erheblich mehr Personal, als sie in Förderschulen zu konzentrieren.

Von Susanne Klein

Mitunter kommt die Einsicht über Nacht. Da sei nicht alles richtig gelaufen in Nordrhein-Westfalen, hieß es am Morgen nach dem Wahldebakel aus der Bundes-SPD. Gemeint waren die Topthemen der Wahl, allen voran die Schulpolitik. Mehr noch als die Sicherheit wurde sie von den Bürgern als wahlentscheidend angesehen. Überraschen konnte das nicht, denn in 17 rot-grünen (und fünf schwarz-gelben) Regierungsjahren seit 1995 hatten sich die Klagen gehäuft: zu wenig Lehrer, zu viel Unterrichtsausfall, überforderte Brennpunktschulen, marode Schulhäuser. 1,8 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern leben in NRW, 170 000 Lehrer unterrichten an den Regelschulen. Wer auf diese Klientel nicht hören will, muss gehen - so lautet die Lehre aus der Wahl.

Kumuliert ist die Unzufriedenheit in der Inklusion. Als wäre die chronische Unterversorgung der Schulen nicht Zumutung genug, verordnete ihnen die grüne Kultusministerin Sylvia Löhrmann obendrein den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Handicaps. Erstere haben seit 2014 in NRW einen Rechtsanspruch auf diesen Unterricht. Das ist richtig, wichtig und notwendig - wenn es gut umgesetzt wird. Ausgerechnet diese Reform aber, die für viele Menschen eine Herzensangelegenheit ist und die eine würdige Antwort auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu geben versucht, ist zu einer weiteren Zumutung ausgeartet. An der Reform klebt das Label "gut gemeint, schlecht gemacht!".

Die SPD hat sich bei der Inklusion die Finger verbrannt

Inklusion bedeutet, dass förderbedürftige Kinder in der Gesellschaft lernen statt an ihrem Rand. Sie bedeutet nicht, dass diese Kinder verloren herumsitzen, weil ihre Förderlehrerin nach zwei Stunden in eine andere Klasse muss. Ebenso wenig ist gemeint, die anderen Schüler könnten dann bloß notdürftig unterrichtet werden, weil der Klassenlehrer mit den Förderschülern beschäftigt ist. Genau so sieht die Realität aber oft aus. Das kommt bitter bei den Eltern behinderter Kinder an. Sie haben die Öffnung der Schulen erkämpft, und jetzt, wo sie verbrieftes Recht ist, müssen viele ihr Kind doch in eine Förderschule schicken, weil es dort besser umsorgt wird - vorausgesetzt, die Schule existiert noch. Von 726 Förderschulen in NRW wurden 155 im neuen Jahrtausend geschlossen, zugunsten der Inklusion. An Sonderpädagogen fehlt es trotz der Schulschließungen; jede fünfte Stelle ist verwaist. Es fehlen Räume, Sachmittel, Lehrerweiterbildungen und verlässliche Qualifizierungen für Schulbegleiter, die Kindern durch den Tag helfen. Proteste und Brandbriefe von Lehrern im ganzen Bundesgebiet zeigen, dass der Mangel keine NRW-Spezialität ist. Die Politik hat die Kosten der Reform schwer unterschätzt. Sonderpädagogische Bildung in allen Schulen anzubieten braucht erheblich mehr Personal, als sie in Förderschulen zu konzentrieren. Vor allem die inklusionsfreundliche SPD hat sich an der Fehleinschätzung die Finger verbrannt. Die CDU wahrt mehr Distanz. Im NRW-Wahlprogramm fordert sie, inklusive Gymnasien müssten Ausnahmen bleiben. Die privilegierteste Schulform soll sich rarmachen dürfen. Auch das ist Klientelpolitik.

Wo sind die handfesten Angebote, die unerschrockenen Investitionen, die "gut gemeint" in "gut gemacht" verwandeln? Martin Schulz sagte am Donnerstag in Berlin, was jetzt in der Bildung geschehe, sei von epochaler Bedeutung. Er kritisierte die im OECD-Vergleich bescheidenen deutschen Bildungsausgaben und will den "in Verfassungsrecht gegossenen Irrtum" des Kooperationsverbots beseitigen, damit der Bund wieder frei in Bildung investieren kann. Er spricht von "viel, viel Geld". Von der Inklusion spricht er nicht - bis ein Schüler ihn danach fragt. Auch darin müsse investiert werden, gesteht Schulz zu. Sehr leidenschaftlich klingt er dabei nicht.

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