Bildungsoffensive des IS:Angriff auf Köpfe und Herzen

Abu Bakr al-Baghdadi

Abu Bakr al-Baghdadi, der sich "Kalif Ibrahim" nennt, bei einem Auftritt im Juli. Der Screenshot stammt aus einem Video, das die Dschihadisten auf einer militanten Webseite gepostet hatten.

(Foto: AP)

Ihr Ziel ist der neue sunnitisch-islamische Mensch: Die Führer der IS-Terrorgruppe lassen in Syrien und im Irak Lehrpläne umschreiben und schwören Dozenten ein. An Schulen und Universitäten bleibt nichts, wie es war.

Von Tomas Avenarius

Selbst kleine Kinder sind nicht tabu im Kalifat. In "Scharia-Camps", die Namen tragen wie "Osama-bin-Laden-Lager", werden schon die Fünf- bis Fünfzehnjährigen vom Islamischen Staat indoktriniert: In einer einseitigen Interpretation des Korans und durch das Lehren des blutigen Dschihadisten-Handwerks.

In einem der Lager sollen die IS-Lehrer den Kindern blonde Puppen und Messer gegeben haben, mit denen sie den Figuren die Köpfe abschneiden sollten, berichtet die Internetseite "Syria Deeply" unter Berufung auf eine Mutter aus dem syrischen Raqqa. Die sagt über ihren Sohn Muhamed: "Das war seine Hausaufgabe: zu üben, wie man einen blonden Westler köpft."

Die Führer des Islamischen Staats, allen voran der selbsternannte "Kalif" Ibrahim, versuchen, der jungen Generation in den von ihnen beherrschten Teilen des Iraks und Syriens ihre religiös-politische Lehre ungefiltert einzutrichtern: in Schulen und Universitäten, in Jugendlagern, bei der militärischen Ausbildung von Kindersoldaten. Weshalb die Verantwortlichen im IS-Bildungsministerium, dem "Diwan des Wissens", die Lehrpläne der Schulen umschreiben, ganze Fakultäten an den Universitäten schließen und Lehrer und Dozenten auf eine vormoderne Weltsicht einschwören lassen: von einer Stelle, die "Islamisches Lehrplan-Büro" genannt wird.

Der Kalif und seine Berater wissen, was sie erreichen müssen

Die offizielle Erklärung des "Diwans": Kalif Ibrahim als "Prinz der Gläubigen" will "die Unwissenheit ausrotten und die Scharia-Wissenschaft vorantreiben". Die näher liegende Erklärung ist eine andere: Nur wenn die Islamisten die Köpfe und Herzen einer ganzen Generation erobern, kann ihr militärisch bedrängter Gottesstaat überleben und an Strahlkraft auch in anderen islamischen Staaten gewinnen.

Bei aller Brutalität im Militärischen und trotz der barbarischen Exekutionen und Körperstrafen im IS-Herrschaftsgebiet wissen der Kalif und seine Berater, was sie erreichen müssen, um ihren Gottesstaat im sunnitischen Teil des Irak und im Nordosten Syriens fest zu verankern: Sie müssen neben dem Gewaltmonopol das Denken der Menschen monopolisieren. Darin zeigt sich das totalitäre Gesicht des Islamisten-Staats - angestrebt wird der neue sunnitisch-islamische Mensch.

Doch der muss geformt werden. Kaum war das Kalifat im Juni ausgerufen, gaben die Islamisten bekannt, dass sie keine Verwendung mehr sähen für die klassischen Fakultäten an den Universitäten der Millionenstadt Mossul im Irak oder in Raqqa in Syrien. Geschichte, Philosophie, Soziologie, Geografie, Psychologie, Kunst, Sport - alles überflüssig. Biologie und Medizin nur, wenn Charles Darwin und die Evolutionstheorie ausgespart bleiben. Mathematik - ja, aber ohne Hinweise auf die der Scharia widersprechenden Zinsgeschäfte. Stattdessen Theologie gemäß der IS-eigenen, engstirnigen wahhabitisch-dschihadistischen Lesart des Islam und ohne neutralen Verweis auf andere Spielarten des Islam oder gar Juden- und Christentum. Alle Andersdenkenden oder Andersglaubenden sind für die Radikalen todeswürdige "Ungläubige".

Islamist insurgents stole uranium from Mosul University

Die Universität von Mossul: Der Lehrplan wurde komplett umgestellt, viele Fakultäten, wie Philosophie und Geschichte, wurden ganz geschlossen.

(Foto: dpa)

Geschlechtertrennung an den Universitäten

So schält sich der Bildungskanon des Kalifats heraus. Er ist zutiefst unhistorisch. Die menschliche Geschichte beginnt mit dem Propheten Mohammed im siebten Jahrhundert. Die Vorzeit erklärt sich mehr oder weniger aus den koranischen Textstellen, die beschreiben, wie Gott den Menschen geschaffen hat und was Propheten wie Abraham und Moses von sich gegeben haben sollen. Die meisten Erkenntnisse der modernen Wissenschaften, die im säkularen Irak des Diktators Saddam Hussein Allgemeingut zumindest für die Ober- und Mittelklasse waren, zählen nicht: Sie würden dem Koran und den prophetischen Überlieferungen allzu offensichtlich widersprechen.

An den Universitäten und Schulen herrscht Geschlechtertrennung, Männer dürfen keine Frauen unterrichten. Mehr noch: Da sich Erziehung auch an Äußerlichkeiten zeigt, ist "islamische Kleidung" auf Schulhof und Campus Pflicht - für Lehrer wie für Schüler. Mädchen und Frauen haben vollverschleiert und mit Handschuhen zu erscheinen, Jungen und Männer in langen arabischen Überwürfen oder in knöchellangen Hosen und langen Hemden, dem Standard-Outfit der Islamisten.

Rigide Islamvorstellung

Hinter all den absurden religiösen Ideen steht eine rigide Islamvorstellung wahhabitisch-salafistischer Prägung, wie sie in weiten Teilen auch in Saudi-Arabien anzutreffen ist. Zumindest theologisch-geistig sind die Saudi-Herrscher also die Paten des Islamischen Staats. Doch vorerst betrifft dessen brutale Realität allein den Irak und Syrien.

Sollte der Kalifat-Staat auch nur ein paar Jahre Bestand haben, wird im Irak nach mehr als 30 Jahren fast ununterbrochener Kriege im sunnitischen Landesteil auf diese Weise eine weitere verlorene Generation heranwachsen: nicht nur kriegsgeschädigt, sondern auch bildungsfrei. Ähnliches gilt für Syrien, wo seit mehr als drei Jahren Bürgerkrieg herrscht.

All das wirkt erschreckend, ist aber in den Grundzügen im Nahen und Mittleren Osten nicht neu. Nach dem Sturz des Kö-nigs Faruk in Ägypten Anfang der Fünfzigerjahre schrieben die "freien Offiziere" um Gamal Abdel Nasser die Lehrpläne um, auch nach der Islamischen Revolution zu Beginn der Achtziger in Iran blieb im Bildungswesen kaum ein Stein auf dem anderen.

Ziel ist das Auslöschen von Erinnerungen an den Nationalstaat

"Eine der fundamentalen Bestrebungen jedes neuen staatlichen Regimes ist es, eine neue Gründungsgeschichte zu schreiben", meint die US-Wissenschaftlerin Laurie Brand. Die Islamwissenschaftlerin betont, dass dies im gesamten Nahen Osten immer wieder geschehen sei. Weshalb der IS mit seinem supranationalen Anspruch versuche, jede Erinnerung an den irakischen und den syrischen Nationalstaat zu eliminieren.

Alle Verweise auf die vom Vorgängerregime konstruierte "nationale Geschichte" würden aus den Lehrplänen gestrichen, säkulare Begriffe des Nationalen würden konsequent durch religiöse Schlagwörter wie der "Umma" als Gemeinschaft der wahren Gläubigen und dem Kalifat als einzig legitimer islamischer Staatsform ersetzt. Weshalb eben auch die irakische oder die syrische Nationalhymne nicht mehr gesungen werden dürfen im Kalifat.

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