Bildungsbericht:Gelernt wird getrennt

Noch immer haben Kinder aus schlechten sozialen Verhältnissen und mit ausländischen Wurzeln Nachteile in der Schule. Eine neue Herausforderung sieht der Bildungsbericht in der starken Zuwanderung.

Von Johann Osel, München/Berlin

"Um Bildung, nicht um Sozialromantik" gehe es, stellt die Mutter aus dem Berliner Wedding klar. Für sie war es selbstverständlich, dass ihr Sohn die Grundschule in der Nachbarschaft nie betreten wird. Sie habe gehört, wie viele Kinder dort gar kein Wort Deutsch sprächen, "sich noch nicht mal den Po abwischen können", wie oft die Polizei selbst bei diesen jungen Schülern "wegen ernsthafter Vorkommnisse" auftauche. Welchen Trick sie wählte, um die zugewiesene Schule zu umgehen, will die Frau nicht sagen, zudem anonym bleiben. Beliebt ist - das weiß man in vielen Großstädten - das Anmelden von Kindern bei Verwandten in anderen Vierteln. Die Folge: Das deutsche Bildungsbürgertum meidet Schulen und Kitas mit hohen Migrantenanteilen, gelernt wird nach Herkunft getrennt. Unter anderem diesem Phänomen, das Experten "Segregation" nennen, widmet sich der neue Bildungsbericht von Bund und Ländern.

Mehr als ein Drittel der Kinder, in deren Familien wenig Deutsch gesprochen wird, spielt in einer Kita mit Kindern, die mehrheitlich ebenfalls zu Hause nicht die deutsche Sprache hören. Auch für Grundschulen seien "Segregationstendenzen" zu erkennen, schreiben die Forscher unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. In Städten wie Berlin, Frankfurt, München und Stuttgart betrifft die Entwicklung gar mehr als die Hälfte der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache; dieser Trend habe sich mancherorts verstärkt. Das erschwere "einen alltagsnahen Erwerb der Sprache". Ähnliches zeigt sich allgemein beim Merkmal Migrationshintergrund, also bei Kindern aus womöglich gut integrierten, deutsch sprechenden Familien.

Förderung von Migranten an Schulen

Zuwanderer im Schulsystem - die Flüchtlingskrise verleiht dem Thema "eine neue Dynamik", sagen Bildungsexperten.

(Foto: dpa)

Kurzum: Eltern ergreifen die Flucht, wenn es in Kitas und Schulen viele Kinder mit anderer Herkunft gibt. Familien, die so verfahren, sind übrigens nicht unbedingt reich, haben Integrationsforscher mal in einem Gutachten festgestellt: "Gerade Eltern der Mittelschicht wollen das Beste für ihr Kind, verschlechtern dadurch aber ungewollt die Bedingungen für die verbleibenden Kinder." Die Sorge offenbar: schlechtes Umfeld, mäßiges Lernniveau.

Ob das so stimmt? Der Bildungsbericht, alle zwei Jahre erscheinendes Kompendium, hat sich diesmal eben den Schwerpunkt Migration gesetzt. Die Flüchtlingskrise und ihre Herausforderungen geben auch für die Bildung den Takt vor. Die Ergebnisse sind zwiespältig zu interpretieren: Migrantenkinder zählen nach wie vor überdurchschnittlich oft zu den Verlierern im Schulwesen. Knackpunkt ist die Sprache: Kinder mit zwei im Ausland geborenen Eltern haben in der Grundschule einen Rückstand von einem Lernjahr gegenüber Deutschen. Bei 63 Prozent der Kita-Kinder mit Migrationshintergrund werde zu Hause meist eine andere Sprache gesprochen. Der Abgrenzungstrend ist da alles andere als hilfreich.

Migranten schaffen mehr als doppelt so häufig wie deutsche Mitschüler keinen Abschluss

Und auch andere Daten zeigen die Probleme: So erlangen Migranten mehr als doppelt so häufig wie ihre deutschen Mitschüler keinen Schulabschluss. Während fast die Hälfte der deutschen Jugendlichen am Gymnasium lernt (und nur noch acht Prozent an einer Hauptschule), liegt der Gymnasiastenanteil bei ausländischen Jugendlichen bei 24 Prozent. In der Ausbildung ist die Abbrecherquote 50 Prozent größer als die der Deutschen. Gleichwohl stellt der Bericht fest, dass Misserfolge nicht hauptsächlich am Migrationshintergrund liegen, sondern an den beschränkten sozialen Verhältnissen der Eltern, also Arbeitslosigkeit oder geringer Verdienst.

Bei ähnlichem Milieu seien die Anteile an den Bildungswegen, auch der Gymnasialbesuch, bei Kindern mit Migrationshintergrund vergleichbar. Zudem haben sich die Kompetenzen der Schüler mit ausländischen Wurzeln verbessert, im Lesen und Rechnen - das war auch schon bei den Pisa-Studien zu sehen. "Die letzten zehn Jahre Migration im Bildungswesen lassen sich als eine Geschichte von Licht und Schatten, von Fortschritten in der Bildungsbeteiligung, aber auch von weiter bestehenden Bildungsungleichheiten bilanzieren", so die Autoren. Der Bericht bezieht sich vorrangig auf Daten aus den Jahren 2013 und 2014, einen Migrationshintergrund hatten damals 21 Prozent der Bevölkerung.

Angesichts der Flüchtlingszahlen dürfte der Anteil gestiegen sein. Mindestens 300 000 schulpflichtige Flüchtlinge sind nach Schätzungen seit 2015 gekommen, es sind Analphabeten darunter, ebenso Kinder, die schon in ihrer Heimat eine Schule besuchten. Maßgeblich für die Integration wird zudem die berufliche Bildung sein. Die insgesamt nötigen Investitionen beziffert der Bericht auf zusätzlich bis zu drei Milliarden Euro jährlich - vor allem für mehr Personal wie Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter. "Seit Jahrzehnten kennt Deutschland Migration, sagte Kai Maaz, Sprecher der Autorengruppe. "Aber nun bekommt sie eine neue Dynamik und neues Gewicht." Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) betonte, man könne auf die bisherigen Erfolge "stolz sein"; die aktuelle Zuwanderung "kann und wird unsere Gesellschaft bereichern, wenn es uns gelingt, diejenigen, die zu uns kommen und bleiben werden, rasch zu integrieren."

Immer nach oben

Trotz der Probleme von Schülern mit Migrationshintergrund, trotz der sozialen Spaltung im System - generell gehen die Erfolgsquoten im Bildungswesen nach oben. Nachzulesen ist dies im neuen Bericht von Bund und Ländern: So machen inzwischen mehr als 40 Prozent eines Jahrgangs Abitur (vor zehn Jahren waren es 29 Prozent), hinzu kommt ein Boom des Fachabiturs und immer offenere Wege in ein Studium für beruflich Qualifizierte. Die Folge: Der Andrang an den Hochschulen ist ungebrochen, die Studienanfängerquote lag 2015 bei 58 Prozent des Jahrgangs. Zum fünften Mal in Folge haben sich eine halbe Million Menschen eingeschrieben. Das Centrum für Hochschulentwicklung rief in einer Analyse bereits den "Normalfall Hochschulbildung" aus. "Es ist erfreulich, dass sich der Bildungsstand der Bevölkerung kontinuierlich verbessert hat. Dazu tragen auch die Flexibilität und Durchlässigkeit des Schulsystems im Hinblick auf höhere Abschlüsse bei", sagte die Chefin der Kultusministerkonferenz, Claudia Bogedan (SPD). Wenig erfreut ist der Philologenverband, in dem viele Gymnasiallehrer organisiert sind: "Unkontrollierte Bildungsexpansion führt zur Entwertung von Abschlüssen", sagte Verbandschef Heinz-Peter Meidinger. Er appellierte an die Politik, Bildungsqualität nicht an reiner Quantität und an Abiturquoten zu messen. Zu befürchten sei einerseits, dass Hauptschul- und Realschulabschlüsse künftig "im Verdrängungswettbewerb nach unten" noch weniger zählten; und andererseits stehe hinter der Studienberechtigung "immer häufiger keine Studienbefähigung mehr" - zu sehen etwa an hohen Abbrecheranteilen im Studium und an Anzeichen der Unzufriedenheit von Arbeitgebern. Johann Osel

Genau hier wird Segregation allerdings eine Rolle spielen - die derzeitige Zuwanderung wird den Trend wohl noch verschärfen. Gängerweise kommen Flüchtlingskinder in Vorbereitungsklassen. Das an der Universität Köln angesiedelte Mercator-Institut für Sprachförderung teilte am Donnerstag mit: Für den Erwerb der deutschen Sprache seien diese Klassen hilfreich, sie dürften jedoch nicht zu einer weiteren Segregation im Schulsystem führen: "Sobald sie sprachliche Basiskenntnisse besitzen, sollten Kinder und Jugendliche eine Regelklasse besuchen und dort zusätzlich sprachlich gefördert werden."

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