Bildung:Zeit für Experimente

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Die Länder gehen verschiedene Wege bei der Öffnung von Schulen und Kitas. Sachsen geht voran - was nicht alle begeistert.

Von C. Henzler, C. Koopmann und C. Wernicke, München

Es ist ein großes Experiment, das in Sachsen in dieser Woche gestartet ist: Seit Montag haben Grundschulen und Kitas wieder geöffnet, und zwar für alle Kinder, jeden Tag, ohne Abstandsregeln. Im Rest der Republik ist man sich dagegen bislang einig, dass man vorsichtiger sein muss. In Niedersachsen etwa bekommen nur Schüler Präsenzunterricht, die in diesem oder im nächsten Sommer einen Abschluss machen oder auf eine weiterführende Schule wechseln. In Bayern kommen Erst-, Fünft- und teilweise Sechstklässler dazu, und auch das nur in kleineren Gruppen und im tage- oder wochenweisen Wechsel mit anderen Schülern. Der Kitabesuch ist hier von Montag an für Vorschulkinder möglich, nur in Ausnahmefällen auch für andere. So oder so ähnlich - Stichwort: Bildungsföderalismus - ist es in den meisten Bundesländern geregelt.

Umso interessierter dürften viele Landesregierungen nun nach Sachsen schauen: Wie läuft es beim Vorreiter unter den Schul- und Kita-Öffnern? Um das zu bewerten, sagt eine Sprecherin des Dresdner Kultusministeriums am Freitagmittag, sei es noch "entschieden zu früh". Schließlich gingen die Kinder ja erst dreieinhalb Tage wieder in Schulen und Kitas. Man sei "vorsichtig optimistisch", dass der eingeschlagene Weg der richtige sei: Obwohl der Schulbesuch - nach einer Gerichtsentscheidung - vorerst freiwillig ist, seien 95 Prozent der Grundschüler in die Klassenräume zurückgekehrt, das Feedback sei gut. Dass etwa in einer Dresdner Kita und in einer Oberschule im Landkreis Nordsachsen jüngst je ein Kind positiv getestet wurde, macht den Verantwortlichen keine allzu großen Sorgen. Die Infektionen seien vor der Öffnung passiert. "Wir müssen abwarten, wie es weiter läuft", sagt die Sprecherin des Kultusministeriums.

Vom Abwarten scheint Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) jedoch nicht allzu viel zu halten. Dem Focus sagte er: "Wir wollen, dass nach den Sommerferien der Unterricht auch an allen weiterführenden Schulen wieder normal läuft."

Ursula-Marlen Kruse sagt am Telefon, sie sei "geschockt" gewesen, als sie das am Freitagmorgen gelesen habe. Kruse ist Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Sachsen. Schon vom jüngsten Öffnungsschritt für Grundschulen und Kitas war sie, gelinde gesagt, nicht angetan. Und ihre Befürchtungen haben sich bewahrheitet: "Man will passend machen, was nicht passt", sagt Kruse. Die einzige Sicherung im System - feste Gruppen mit festen Betreuern - gehe wegen des chronischen Lehrermangels nicht auf. "Viele Kollegen wechseln als Springer zwischen Klassen", sagt sie. Auch seien Lehrer und Erzieher aus der Risikogruppe im Dienst, weil die Arbeit sonst nicht zu stemmen wäre. Außerdem kämen die Kinder im Bus zur Schule oder im Hort mit anderen zusammen, die nicht in der gleichen Klasse sind. "Es ist ja nachvollziehbar, dass man zur Normalität zurückkehren will", sagt Kruse. "Aber ich habe den Eindruck, hier ist der Wunsch Vater des Gedankens, nicht die Vernunft."

Lernen fürs Leben: Eine Viertklässlerin an einer Dresdner Schule bindet sich einen Mundschutz um. (Foto: Sebastian Kahnert/dpa)

Dabei basiert der sächsische Sonderweg gerade auf der Annahme, dass die Gefahr gar nicht sonderlich groß ist. Man geht davon aus, dass Kinder das Virus kaum verbreiten. Die Staatsregierung beruft sich dabei auf die Einschätzungen des Dresdner Infektiologen Reinhard Berner. Doch die sind umstritten.

In Baden-Württemberg etwa ist man vorsichtiger. Die vier Unikliniken des Landes untersuchen im Auftrag der Landesregierung noch, welche Rolle Kinder bei der Verbreitung von Sars-CoV-2 spielen. Zwar haben die Wissenschaftler Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vergangene Woche vertraulich erste Ergebnisse mitgeteilt. Doch es soll nichts nach außen dringen, ehe die Forscher sich ihrer Sache sicher sind. Man will vermeiden, eine Entscheidung auf Basis möglicherweise unvollständiger Informationen zu treffen.

Inzwischen ist das Land das Konzept zur schrittweisen Öffnung mitgegangen, das die Kultusministerkonferenz vorgelegt hat. In den Schulen hat am 4. Mai der Betrieb für die Ältesten begonnen, diesen Montag auch für die Viertklässler. Bereits Ende April wurde die Notbetreuung in Kitas und Schulen erweitert. Seitdem reicht es, wenn der Arbeitgeber beiden Elternteilen bestätigt, dass sie unabkömmlich sind und nicht von zu Hause aus arbeiten können. Seit vergangener Woche dürfen Kitas zudem zu einem "eingeschränkten Regelbetrieb" übergehen - viele Kommunen und Einrichtungsträger setzen das schrittweise um. Es dürfen nur halb so viele Kinder in einer Gruppe sein wie sonst, und sie sollen sich abwechseln.

Eine regelrechte Kita-Wende hat diese Woche Nordrhein-Westfalen erlebt. Bislang hatte Familienminister Joachim Stamp (FDP) nur Kinder von Eltern in "systemrelevanten Tätigkeiten" sowie Kinder von berufstätigen Alleinerziehenden in die Kitas gelassen, ab 28. Mai sollten Vorschulkinder folgen. Am Mittwoch jedoch kündigte Stamp überraschend an, was er bisher erst ab September hatte wagen wollen: Am 8. Juni beginnt in allen Kitas nun doch ein "eingeschränkter Regelbetrieb" für alle Kinder - egal, ob U3 oder Ü3.

Stamp begründete seinen Kita-Kurswechsel mit den sinkenden Infektionszahlen im Land. Und er verwies auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus Skandinavien, wo geöffnete Kindertagesstätten keineswegs zu mehr Ansteckungen geführt hätten. Zudem berief Stamp sich auf Appelle von Ärzten und Psychologen, die vor häuslicher Gewalt und vor Entwicklungsschäden ohne Kitas gewarnt hatten.

Noch etwas unklar ist, wie genau der Regelbetrieb nun "eingeschränkt" wird. In jedem Fall wird die Betreuungszeit um zehn Wochenstunden reduziert. Zudem werden die Kinder in feste Gruppen aufgeteilt, eventuell wird die Zahl der Kinder je Gruppe gedeckelt. Zum Schutz des Personals hat das Land NRW fünf Millionen FFP2- und OP-Masken gekauft, die nun an die Jugendämter der Städte verteilt werden.

In NRW, dessen Landesregierung sich sonst zuletzt gern als Lockerer gab, bieten die Schulen nach wie vor nur karge Kost. Vorrang hat, dass Abiturienten und Absolventen der zehnten Klassen ihre Prüfungen absolvieren. In Grundschulen und in Klasse 5 bis 9 der Sekundarstufe I darf an einem Tag oft nur jeweils ein Jahrgang ins Schulgebäude. Für Schüler der Mittelstufe eines Gymnasiums heißt das: Bis zum Beginn der Sommerferien Ende Juni dürfen sie ganze drei Mal ihre Schule betreten.

© SZ vom 23.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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