Bildung:Selbstüberschätzung

Wer Leistung überbewertet, übersieht Ungleichheit.

Von Bernd Kramer

In den Fünfzigerjahren hat der britische Soziologe Michael Young den Begriff "Meritokratie" geprägt: Gemeint ist eine Gesellschaft, in der allein die Leistung über den Status bestimmen soll.

Die Idee hat viele Anhänger: 84 Prozent der Deutschen unterstützen sie laut dem neuen Bildungsbarometer des Forschungsinstituts Ifo. Und 85 Prozent glauben, dass der Bildungsgrad tatsächlich von der eigenen Anstrengung abhängt. Obwohl Schulstudie um Schulstudie den enormen Einfluss der sozialen Herkunft belegt, sehen die Deutschen ihr Ideal der Meritokratie ganz gut verwirklicht. Die Umfrage zeigt damit eindrücklich, wie systematisch Menschen den eigenen Anteil am Erfolg über- und die Umstände unterschätzen. Wer wissen will, warum das Land so groteske Maße an Ungleichheit hinnimmt - diese Fehlwahrnehmung dürfte ein Grund sein. Die Selbstüberschätzung geschieht dabei nicht mal unbedingt aus Überheblichkeit: Oft sind einem die harten Lernphasen in der Schule und Uni schlicht präsenter als das Glück, der Zufall oder die Unterstützung. An sie muss man sich erst mit Mühe erinnern.

Vergessen ist heute, dass Young in der Meritokratie eher eine Dystopie sah: eine unbarmherzige Gesellschaft, in der am Ende auch die Verlierer mit dem Gedanken leben müssen, es nicht anders verdient zu haben.

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