Am Ende, das wäre eine absurde, wenn auch klischeehafte Pointe der Geschichte, würden nur noch wenige Politiker übrigbleiben, die als aufrecht zu bezeichnen wären. Darunter dieses seltsame Paar: US-Präsident Barack Obama und Marine Le Pen als Chefin der französischen Rechtsaußen-Partei Front National. Sie war nicht erwünscht, als sich am Sonntag mehr als 40 Staats- und Regierungschefs öffentlichkeitswirksam nach Paris begaben, um dem islamistisch motivierten Grauen ein Zeichen von Einheit, Mut und Widerstand entgegenzusetzen. Und er, Obama, blieb der größten Versammlung, die Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen hat, dem Charlie-Hebdo-Trauermarsch für die Terroropfer von Paris, "aus Sicherheitsgründen" fern - wie es aus den USA nun etwas bedauernd heißt.
So sind sie beide nicht auf einem Bild zu sehen, das um die Welt ging und schon jetzt zu den bedeutsamsten politischen Ikonographien unserer Epoche zählt. Nur dass mittlerweile bekannt wurde, dass auf dem Bild nicht nur das zu sehen ist, was man sieht.
Wir gegen die, das war die Botschaft
Auf dem Bild, das am Montag die Titelseiten in aller Welt schmückte, ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sehen, Arm in Arm mit Präsident François Hollande. Flankiert von EU-Ratspräsident Donald Tusk, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Zu sehen sind all jene Politikerinnen und Politiker, die Gemeinsamkeit demonstrieren angesichts der gewaltigen Bedrohung für den Westen, ja für die Welt, die von delirierenden Mördern ausgeht. So entstand auch ein unvorstellbares Bild, eine Jahrhundertaufnahme, ein Wimpernschlag der Geschichte: Renzi aus Rom, Cameron aus London, Rajoy aus Madrid, die gesamte deutsche Regierungsspitze, ein Israeli, ein Araber - vereint und "an der Spitze des Zuges" Hunderttausender Menschen. Zu sehen waren: unsere Werte, unser Glaube, unsere Stärke. Vor allem aber: unsere Geschlossenheit. Wir gegen die, das war die Botschaft. Und sie kam an.
So war es in den Zeitungen zu lesen, "an der Spitze des Zuges", auch in der SZ. Es ist wahr - und doch stimmt es nicht. Wie man inzwischen weiß, wurde das Bild in einer abgesperrten Straße aufgenommen. Das berichten übereinstimmend The Independent, Daily News oder Huffington Post. In französischen Zeitungen wird berichtet, dass das Bild gegen halb vier am Nachmittag aufgenommen wurde, auf dem Platz Leon Blum, in der Nähe der Metrostation Voltaire. Nach der Aufnahme, so Le Monde, seien fast alle Spitzenpolitiker wieder von ihren Limousinen abgeholt worden.
Ist das ein Skandal? Natürlich nicht. Sind wir jetzt weniger "wir", bloß weil der Anschein, die Massen und die politische Elite wären für einen kurzen Augenblick ein großes Ganzes, sie wären eins geworden, trügt? Natürlich nicht. Ist es vorstellbar, dass sich die Spitzen der Länder ungesichert auflösen könnten in einer unüberschaubaren Masse von Menschen - wenige Tage nach den Attentaten? Natürlich nicht. Alles andere ist eine naive Vorstellung, die nicht einmal der Wahrheit, sondern vor allem dem Skandalon dient. Man muss sich ja nur vorstellen, was geschehen wäre, wenn auch nur ein Spitzenpolitiker einem weiteren Anschlag zum Opfer gefallen wäre. Was das für ein Aufschrei über unfähige Sicherheitsdienste gewesen wäre. Und man muss wissen, welch gigantischer Aufwand zu treiben ist, um Risiken auszuschließen. Und dies angesichts nur weniger Tage, die für die Vorbereitung zur Verfügung standen.
Schon immer war Politik auch Geste, Symbol, Haltung
Die Aufregung jetzt ist dennoch so groß wie die Heuchelei. Das "richtige" Bild, also die Aufnahme der Politiker, die von ein- oder auch zweihundert Sicherheitsleuten abgeschirmt werden, zum Fototermin, auf einem menschenleeren Platz, abseits des Trauermarsches der Hunderttausenden, geht jetzt ebenso um die Welt wie das "falsche" Bild zuvor. "Fake!" ist dazu voller Empörung in den sozialen Netzwerken zu lesen. Ein Kritiker schreibt: Das Bild sei reiner Symbolismus - und somit genau das, was die getöteten Mitarbeiter der Zeitschrift Charlie Hebdo immer bekämpft hätten. Würde man sich diese Sicht zu eigen machen, dann wären nicht die islamistischen Mörder unsere Feinde, sondern unsere eigenen Politiker. Es ist Wahnsinn, was da gerade passiert.
Die Ikonographie der politischen Sphäre ist ein fester Bestandteil der Bildgeschichte. Immer schon war Politik auch Geste, Symbol, Haltung. Der Porträtist wie der Fotograf, der Blick des Betrachters und die Wahrheit im Auge des Betrachters: Das war immer schon Kalkül, Bestandteil der Politik. Das gilt für Brandts Kniefall in Warschau wie für das Händchenhalten von Kohl und Mitterand an den Gräbern des Schlachtfelds von Verdun oder auch für jenen Händedruck zwischen Arafat und Rabin. Das gilt für Machtposen wie dem Victory-Zeichen von Churchill bis de Gaulle oder auch für die Faust der Sozialisten. Das gilt auch für Empörung, für Chruschtschows Schuh-Attacke oder das spätere Schuh-Werfen gegen Bush. Ob Empörung, Machtanspruch, Siegeszeichen, Unterwerfung (Brandt in Warschau) oder eben auch Einheit, Freundschaft, Seite-an-Seite-Stehen (Merkel et al. in Paris): Die Wahrheit des Kalküls bedeutet nicht zugleich die Unaufrichtigkeit der Geste.
Als in Paris die Politiker zur ihrer eigenen, absolut nachvollziehbaren Sicherheit wie auch zu unserem Bilde einer Politik, die ein untrennbares Ganzes in Stunden der Gefahr sein muss, zusammenfand, da ereignete sich Geschichte. Die Wahrheit über dieses Bild gibt es auch. Trotzdem ist das kein Skandal, sondern eine Fußnote der Geschichte.
Kanzlerin Merkel: ausradiert
Ein Fake ist etwas ganz anderes, wie die ultraorthodoxe Zeitung Hamodia (Der Verkünder, Auflage: 25 000) anhand des gleichen Bildes demonstriert. Die verkündenden Redakteure der israelischen Zeitung retuschierten nämlich alle Frauen aus dem Foto heraus. Kanzlerin Merkel wurde sozusagen ausradiert. Auch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo wurde entfernt - und Federica Mogherini, Außenbeauftragte der EU, ist nur noch mit einer Hand im Bild zu sehen.
Die Blattmacher sind auch schon in der Vergangenheit auf diese Weise aufgefallen. Ihrem Glauben gemäß bestehen sie auf strikte Geschlechtertrennung - auch auf Fotos. Zumindest in den Redaktionsräumen der Verkünder dürfte also keine allzu große Aufregung über das gestellte Jahrhundertfoto herrschen. Nur wird man sich dort fragen, ob man nicht zumindest die Politikerinnen hätte so abschirmen können an der Voltaire-Metrostation, dass man sie am besten gar nicht sieht. Letztlich sehen immer alle das, was sie sehen wollen.