Süddeutsche Zeitung

Bilanz in Grafiken:So hat die große Koalition Deutschland verändert

In den vergangenen vier Jahren hat die Bundesrepublik an Wirtschaftskraft gewonnen - und so viele neue Einwohner wie noch nie. Doch nicht alle Trends gehen nach oben. Eine Bilanz.

Von Jan Bielicki und Roland Preuß

Bilanzen sprechen in Zahlen, jedenfalls in der Betriebswirtschaft. In der Politik lassen sich Erfolg und Misserfolg nur bedingt auf Zahl und Komma bemessen, dennoch schlagen Wahlkämpfer einander und dem Wahlvolk regelmäßig Statistiken um die Ohren. Wie also sieht in Zahlen die Bilanz von vier Jahren großer Koalition aus?

Zuwanderung

Das größte Ereignis der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode war die Ankunft der vielen Flüchtlinge. Sie hat die Bundesrepublik verändert, auch zählbar. Ende 2016 lebten Schätzungen des Statistischen Bundesamtes zufolge 82,8 Millionen Menschen in Deutschland, so viele wie noch nie. Vier Jahre zuvor waren es noch 80,8 Millionen, Tendenz in den ersten Jahren des Jahrtausends eigentlich sinkend. Allein im Jahr 2015 kamen etwa 1,24 Millionen mehr Menschen - nicht nur Flüchtlinge, sondern etwa auch Zuwanderer aus Europa - nach Deutschland, als abwanderten. Schon 2016 ist dieser Wanderungssaldo wieder deutlich kleiner geworden, er lag bei amtlich vorerst nur grob geschätzten, aber immer noch hohen 750 000 Zuwanderern.

Wohlstand

Wirtschaftlich brummte Deutschland unter Angela Merkels schwarz-roter Regierung. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit Anfang 2013 um mehr als neun Prozent und damit deutlich stärker gestiegen als im europäischen Schnitt. Nicht ganz so gut sieht es beim Pro-Kopf-Wachstum aus. Es liegt unterhalb des EU-Schnitts - der Grund dafür: Die starke Einwanderung hat einerseits wirtschaftsfördernd mehr Konsumenten in Land gebracht, andererseits verteilt sich die gewachsene Wirtschaftsleistung auf mehr Einwohner.

Staatsfinanzen

Entsprechend sprudelten die Steuereinnahmen. 2016 kassierten die Finanzämter die Rekordsumme von 706 Milliarden Euro, das waren 86 Milliarden mehr als noch vier Jahre zuvor. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) muss für seinen Etat keine neuen Schulden mehr aufnehmen. Eine leicht rote Null im Bundeshaushalt 2013 wurde in den Jahren danach zu einer schwarzen. Der Schuldenstand sank. Machten die Schulden des Bundes 2013 noch 49,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, waren es 2016 nur noch 43,6 Prozent.

Arbeit und Arbeitslosigkeit

Noch nie arbeiteten in Deutschland so viele Menschen wie in diesem Jahr. Im Mai zählte die Bundesagentur für Arbeit 32,1 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, mehr als zwei Millionen mehr als noch zu Beginn der Legislaturperiode. Die Arbeitslosenquote sank von 6,9 auf 5,7 Prozent.

Und wer Arbeit hat, der hat heute auch auf dem Gehaltszettel mehr davon, jedenfalls im Schnitt. Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst stieg deutlich stärker als die Inflationsrate - Beschäftigte, vom hochbezahlten Manager bis zum Friseurgesellen, verdienten 2016 durchschnittlich laut Statistischem Bundesamt 3703 Euro brutto im Monat, 7,4 Prozent mehr als 2013. Geringverdiener profitierten Erhebungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zufolge von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns: Der Monatsverdienst von Niedriglohn-Beschäftigten stieg demnach von 839 Euro im Jahr 2014 auf 994 Euro ein Jahr später - und das bei geringerer Wochenarbeitszeit.

Armut und Gerechtigkeit

Allerdings gibt es heute etwa 80 000 Menschen mehr, die Sozialleistungen nach Hartz IV erhalten, als zu Beginn der Legislaturperiode. Im März 2017 lebten 6,17 Millionen von Hartz IV, davon waren 1,64 Millionen Kinder unter 15 Jahren. Im September 2013 waren es 6,09 Millionen, davon 1,62 Millionen Kinder. Hauptgrund dafür, dass die Hartz-IV-Zahlen nicht zurückgingen: die Zuwanderung. So waren unter den erwerbsfähigen Leistungsempfängern im März 2017 1,45 Millionen Ausländer, das war fast jeder Dritte. Im September 2013 waren es erst 960 000 Ausländer, also nicht einmal jeder Vierte.

Über die von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in den Wahlkampf geworfene Frage, wie gerecht es nach vier Jahren großer Koalition zugeht im Land, liegen noch keine wirklich aussagekräftigen Daten vor, allenfalls erste Hinweise: So lebten 2014 und 2015 laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) etwas mehr Menschen als in den Jahren davor von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens - und gleichzeitig mehr Menschen von mehr als 130 Prozent des mittleren Einkommens. Der Trend ging also weiterhin zu mehr Geringverdienern und, weit weniger stark, zu mehr Besserverdienenden.

Gleichberechtigung

Nicht wirklich vorangekommen ist Deutschland in den vergangenen vier Jahren, wenn es um die gleiche Behandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben geht. Zwar ist die Gender Pay Gap genannte Bezahlungslücke leicht geschrumpft. Noch immer aber verdienen Frauen im Schnitt 21,5 Prozent weniger Geld als ihre männlichen Arbeitskollegen - das ist ein deutlich schlechterer Wert als in den meisten anderen Ländern Europas.

Energiewende

Beim Strom sei die Energiewende "gut vorangekommen", stellt sogar die Umweltorganisation BUND mit Blick auf die vergangenen Jahre fest. Etwa ein Drittel des verbrauchten Stroms im Land stammt inzwischen aus Wasserkraft, Sonne oder Wind. Dennoch steht die Energiewende für den kraftlosen Arm der großen Koalition - und damit auch für die Mängel beim Klimaschutz, denn Treibhausgase fallen zum Großteil durch den Energieverbrauch an. Dies wird deutlich beim Blick auf den Einsatz aller genutzten Energieträger, was nicht nur den Strom umfasst, sondern auch Energie zum Heizen oder für Züge, Autos und Lastwagen. Hier ging es seit 2013 nur schleppend vorwärts.

Zum Heizen werden nach wie nur wenige erneuerbare Quellen verwendet, beim Verkehr ist der Anteil der Erneuerbaren sogar gesunken. Ernüchternd stabil ist dagegen der Anteil von Braun- und Steinkohle und damit der schlimmsten CO₂-Schleudern der Republik. Die Kohle allein verursacht etwa ein Drittel aller deutschen Treibhausgase. Das liegt auch daran, dass die Kohlelobby sich erfolgreich durchgesetzt hat gegen Pläne, ihre Kraftwerke zügig abzuschalten. Die deutschen Klimaziele für 2020, 40 Prozent weniger Treibhausgase als 1990, sind so kaum mehr zu erreichen.

Bildung und Forschung

Bessere Schulen, Hochschulen und Forschungsinstitute, das hatte die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag 2013 als einen ihrer Schwerpunkte formuliert. Was das Geld angeht, stimmt dies auch: Der Etat von Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) wuchs stetig, über die Wahlperiode um fast vier Milliarden Euro. Gerade die Wissenschaftsorganisationen wie die Max-Planck-Institute können sich über satte Zuwächse freuen. Mängel lassen sich vor allem beim Punkt Chancengerechtigkeit feststellen. So ist die Zahl der Empfänger von Bafög, das Kindern aus ärmeren Elternhäusern den Aufsteig ermöglichen soll, zuletzt deutlich zurückgegangen, um 47 000. Und das trotz einer Bafög-Reform. Der Grünen-Bildungsexperte Kai Gehring spricht vom "größten Bafög-Bluff in der Geschichte der Bundesrepublik". Er meint: "Johanna Wanka war die Ministerin für Spitzenforschung, nicht für Bildung."

Zufriedenheit

Jenseits der harten Daten zu Arbeitsplätzen oder Wachstum spielt bei einer politischen Bilanz auch anderes eine entscheidende Rolle: Wie das alles wahrgenommen wird, wie zufrieden die Bürger mit ihren Lebensumständen sind. Dies fragen Forscher des DIW regelmäßig im sogenannten Sozio-ökonomischen Panel ab. Noch nie seit Beginn der Erhebung 1984 zeigten sich die Menschen dabei so zufrieden wie 2015, dem jüngsten Jahr der Untersuchung. Das klingt nicht so, als träfe die Kritik von Linkspartei oder SPD, es gehe in Deutschland ungerecht zu, die Stimmung im Land. Wie zufrieden sich die Bürger fühlen, hat eine Regierung allerdings auch nur bedingt in der Hand, wie ein Blick auf die Kurve zeigt. Mitunter trüben Ereignisse von außen die Stimmung, etwa die Terroranschläge von 2001 oder die Reaktorkatastrophe im fernen Japan. Und noch nicht gemessen ist, wie sich Ereignisse der vergangenen eineinhalb Jahre, etwa die Silvesternacht von Köln, der Brexit oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten auf das Gemüt der Deutschen gelegt haben. Solche - oft nicht in Zahlen fassbare - Emotionen aber werden die Bundestagswahl mitentscheiden.

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Quelle:
SZ vom 06.09.2017
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