Süddeutsche Zeitung

US-Wahlsieger Joe Biden:Mit Ende siebzig am Anfang

Schon als junger Mann wusste Joe Biden, dass er hoch hinauswill. Aber sein Weg ins Weiße Haus wies viele Schlaglöcher auf.

Von Theresa Crysmann

Ein Junge aus dem Nordosten

Ursprünglich stammt Joseph "Joe" Biden aus Pennsylvania. In dem Staat des amerikanischen "Rostgürtels" gehört die Bevölkerung vor allem der unteren Mittelschicht an, viele Einwohner haben keinen College-Abschluss. Auch Biden kommt aus eher bescheidenen Verhältnissen: Der Vater war Autohändler, die Mutter Hausfrau, die Familie hatte nie viel Geld. Bis zu Beginn der Corona-Krise koordinierte Biden auch seine Kampagne von seinem Geburtsstaat aus, bevor er die Wahlkampfzentrale in den Keller seines Wohnhauses im benachbarten Delaware verlegte.

Zuhause in Delaware

Die längste Zeit seines Lebens hat Joe Biden in Delaware verbracht. Dort lebt er gemeinsam mit seiner Frau Jill bis zum anstehenden Umzug nach Washington, D.C. auch jetzt. Bereits im Schulalter zog Biden mit seinen Eltern in die Stadt Wilmington, ging für ein erstes Studium ins 20 Kilometer entfernte Newark und verließ den Staat nur, um in Syracuse, New York, auch noch Jura zu studieren. 1968 kehrte er zwar nur mit einem mittelmäßigen Abschluss, aber dafür frisch verheiratet mit seiner ersten Frau Neilia nach Delaware zurück. Wieder in Wilmington, arbeitete Biden zwischen 1969 und 1972 dann erst als Strafverteidiger und anschließend in seiner eigenen Kanzlei.

Demokrat auf Umwegen

Schon während seines Jurastudiums half Biden in der Kongress-Kampagne eines demokratischen Kandidaten mit. Trotzdem ließ er sich nicht, wie in den USA möglich, als Unterstützer der Demokraten im Wählerverzeichnis eintragen: Der Gouverneur von Delaware, Demokrat Charles Terry, war ihm zuwider, da dieser nach dem Mord an Martin Luther King Jr. knapp ein Jahr lang die Nationalgarde in der Hauptstadt des Bundesstaates patrouillieren ließ, um Unruhen zu verhindern. Deshalb gab er seine Stimme bei der nächsten Wahl auch Terrys republikanischem Kontrahenten. Erst eine parteiinterne Reformbewegung junger Demokraten in Wilmington konnte Biden 1969 für die Partei gewinnen. Kurz darauf trat er für den Kreistag an und gewann aus dem Stand.

Vom Gericht in den Senat

Für die Senatswahl 1972 fand sich bei den Demokraten in Delaware niemand, um den seit zwölf Jahren amtierenden republikanischen Senator James Caleb Boggs herauszufordern. Also schickten sie den 29-jährigen Joe Biden - chancenlos, aber hochmotiviert - als Platzhalter ins Rennen. Bidens Kampagne hatte kaum Geld, er selbst war quasi unbekannt und im Wahlkampf sogar noch zu jung, um überhaupt in den Senat einziehen zu dürfen. Erst zwei Wochen nach der Wahl sollte Biden das vorgeschriebene Mindestalter von 30 Jahren erreichen. Mit der Hilfe seines Vaters bei Wahlkampfauftritten und seiner Schwester als Wahlkampfleiterin bemühte Biden sich trotzdem um jede Stimme - und gewann die Wahl mit 50,5 Prozent. Seine energiegeladene Kampagne, die junge Familie mit den zwei kleinen Kindern und Bidens einfühlsame Art gegenüber Wählern kamen an. Dass 1972 zum ersten Mal auch 18-Jährige in Delaware wählen durften, hatte Biden, dem sechstjüngsten Senator in der US-Geschichte, sicher auch nicht geschadet.

Eng verbunden

Seit den ersten Spekulationen über Joe Bidens Kandidatur stilisieren amerikanische Medien seine Familie zu einer Art Superkraft: Bei öffentlichen Auftritten zitiert er gerne Ratschläge seiner Mutter, im Internet kursiert ein Video, in dem seine vier älteren Enkelinnen sich darüber amüsieren, dass er sie täglich anrufe. Dass seine Familie für Biden so wichtig ist, hat viel mit den Tragödien zu tun, die sie gemeinsam erlebt haben. Der Unfalltod seiner ersten Frau Neilia und ihres dritten Kindes Naomi kurz nach seiner Wahl in den Senat 1972, das Leben als Politiker und alleinerziehender Vater seiner beiden Söhne Hunter und Beau und der frühe Krebstod des erwachsenen Beau haben Biden tief geprägt. Durch diese Zeit geholfen haben ihm seine Eltern und Geschwister, aber besonders auch seine zweite Frau Jill, die er 1977 geheiratet hat und mit der er die gemeinsame Tochter Ashley bekam.

Mehr als 35 Jahre im Senat

Bei seinem Ausscheiden aus dem US-Senat 2009 war Biden einer der dienstältesten Senatoren des Landes. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte ihn das US-Magazin Time als eines von "200 Faces for the Future" notiert. Aus diesem Jahr stammt auch Bidens Aussage, er trete für liberale Bürgerrechte, ein besseres Gesundheitssystem und die Interessen älterer Mitmenschen ein, sei aber bei Themen wie Abtreibung und Wehrpflicht konservativ eingestellt. In den ersten zehn Jahren arbeitete Biden vor allem zu Verbraucher- und Umweltschutzthemen und setzte sich für strengere Richtlinien zur Rüstungskontrolle ein. Besonders engagierte er sich im außenpolitischen Ausschuss und im Justizausschuss. Und wetterte dort auch gegen den Kurs der Regierung, zum Beispiel wegen Präsident Ronald Reagans Unterstützung des Apartheid-Regimes in Südafrika.

Am liebsten Außenpolitiker

Schon Anfang der Siebzigerjahre hatte sich Joe Biden mehr für Außenpolitik auf Bundesebene interessiert als für kommunale Themen. Im US-Senat nominierten die Demokraten ihn tatsächlich für den außenpolitischen Ausschuss, wo Biden sich stark für die internationale Zusammenarbeit einsetzte und als zweimaliger Vorsitzender Hunderte Staats- und Regierungschefs traf. In dieser Zeit hat sich allerdings auch gezeigt, wie inkonsequent Bidens Positionen sein können: Während er 1991 gegen den ersten Irakkrieg stimmte, sprach er sich 2003 für den US-Einmarsch in das Land aus. Später bereute er beides. Besonders engagiert war Biden in der amerikanischen Balkanpolitik der Neunzigerjahre. Für den Schutz der bosnischen Bevölkerung drang er während der jugoslawischen Nachfolgekriege auf Härte gegen die serbische Truppen, im Kosovo-Krieg befürwortete er die völkerrechtlich umstrittene Bombardierung der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien durch die Nato, bei der Hunderte Zivilisten getötet wurden. Jahrzehnte später sprach Biden als Vizepräsident den Familien der Getöteten in Belgrad sein Beileid aus.

Entscheider über Richter und Schicksale

Als Vorsitzender des Justizausschusses des Senats von 1987 bis 1995 leitete Biden die Anhörungen der beiden konservativen Nominierten für den U. S. Supreme Court Robert Bork und Clarence Thomas. Während Thomas' Anhörung ging Biden so nachlässig mit den Aussagen der Juristin Anita Hill um, die Clarence sexuelle Belästigung vorwarf, dass diese der Falschaussage bezichtigt wurde und ihre Lehrstelle verlor, wofür Biden sich 2019 entschuldigte. Nachhaltig geprägt hat Biden seine Zeit im Justizausschuss auch durch eine kontroverse Strafrechtsreform, die harte Strafen für relativ geringe Vergehen einführte. Sein Vorsitz fiel zwar tatsächlich mit einem Anstieg von Gewaltverbrechen und einer Crack-Epidemie zusammen, viele Kritiker werfen ihm aber vor, mit dem sogenannten Violent Crime Control and Law Enforcement Act eine Ära der Masseninhaftierung losgetreten zu haben, die vor allem viele afroamerikanische Familien auseinandergerissen habe.

Zweimal gescheitert in den Vorwahlen

"Third time lucky!", würde man in den USA wohl sagen. Bei Bidens erstem Präsidentschaftswahlkampf 1988 scheiterte er schon früh in der Vorwahlphase. Drei Monate nach Start seiner Kampagne war der Traum geplatzt, da Biden Formulierungen aus Reden anderer Politiker in seine eigenen Ansprachen eingefügt hatte, ohne die Quellen zu nennen. Eine Rede des britischen Labour-Chefs Neil Kinnock übernahm er beinahe ganz. Als dann auch noch ein möglicher Plagiatsfall aus Bidens Unizeit wieder hochkam, war sein guter Ruf erstmal dahin. Der Schatten seiner Fehler verdecke "das Wesen seiner Kandidatur und das Wesen von Joe Biden", fasste er die Situation selbst zusammen und zog seine Kandidatur zurück. Bidens zweiter Versuch scheiterte 2007 ebenfalls im Vorwahlkampf. Nachdem er den damaligen Senator für Illinois und späteren Präsidenten Barack Obama in einem Interview als "den ersten Mainstream-Afroamerikaner, der wortgewandt, clever und sauber und ein gut aussehender Typ ist", bezeichnet hatte, wäre seine Kampagne fast schon nach wenigen Stunden auseinandergefallen. Trotz der Entgleisung schied Biden erst aus, als er bei der ersten Abstimmung der Parteimitglieder weniger als ein Prozent der Stimmen bekam.

Obamas rechte Hand

Als sich Barack Obama 2008 für Joe Biden als Vizepräsidentschaftskandidaten entschied, tat er das trotz Bidens Ausrutscher. Denn Biden hatte, was Obama fehlte: viel Erfahrung in Washington und außenpolitische Expertise. Dass die beiden sich persönlich gut verstehen, dürfte geholfen haben. 2008 schlugen sie John McCain und Sarah Palin und 2012 setzten sie sich gegen Mitt Romney und Paul Ryan durch. Am Ende ihrer gemeinsamen Amtszeit war für Obama die Beziehung zu Biden auch ganz offiziell eine "Bromance", eine liebevolle Männerfreundschaft, geworden. Für Bidens "Glauben an seine Mitbürger", seine "Liebe zum Land" und seinen "lebenslangen Dienst" verlieh Obama ihm dann auch die Presidential Medal of Freedom "mit Auszeichnung". So geehrt wurden seit den Neunzigerjahren ansonsten nur Papst Johannes Paul II., der 40. Präsident der Vereinigten Staaten Ronald Reagan und der General und Politiker Colin Powell.

Opfer einer Verschwörungstheorie

Um die Geschäfte von Joe Bidens Sohn Hunter im ukrainischen Gas-Sektor wurden zuletzt Verschwörungstheorien gesponnen, die behaupten, Vater und Sohn hätten sich durch korrupte Deals in der Ukraine enorm bereichert. Sobald Donald Trump 2019 klar war, dass er im nächsten Wahlkampf womöglich gegen Biden antreten könnte, drängte er den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij am Telefon dazu, gegen beide zu ermitteln. Trumps Fehlverhalten sickerte durch, ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn folgte, scheiterte aber an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Im Februar 2020 wurde das Verfahren eingestellt. Einige Wochen zuvor hatte die ukrainische Regierung allerdings erklärt, nun doch gegen die ukrainische Firma ermitteln zu wollen, in deren Aufsichtsrat Hunter Biden einige Jahre saß. Dem Wahlkampf seines Vaters hat dies anscheinend nicht geschadet.

"Our best days still lie ahead"

Die Stimmung im Land sprach für Biden, die Prognosen auch und die Spendensummen, die in der US-Politik den Wahlausgang meist deutlich mitbestimmen, erst recht. Trumps desaströser Umgang mit der Corona-Krise, seine aggressive Einstellung zur "Black Lives Matter"-Bewegung und die Enthüllung seiner quasi nicht vorhandenen Steuerzahlungen hatten Joe Biden in den Umfragen immer weiter nach vorne geschoben. Den Sommer über sammelte Bidens Kampagne Rekordsummen in Spenden ein und startete in die letzte Wahlkampfphase mit einem Kontovorsprung von 177 Millionen Dollar. Biden werde gewinnen, hieß es, einfach weil er nicht Trump sei. Auch er selbst klang lange so ähnlich: Wenn einer Trump schlagen könne, dann er. Erst in den letzten Monaten setzte er stärker auch auf inhaltliche Themen: striktere Waffengesetze, eine Polizeireform, Obamacare ausweiten, die Klimakrise bekämpfen, ein härterer Umgang mit Russland. Die Nominierung der Afroamerikanerin Kamala Harris als Vizepräsidentschaftskandidatin hat ihm weitere Sympathien eingebracht. Auch wenn Biden in der Hitze des Wortgefechts mal Anekdoten zu großzügig ausschmückte oder Jahreszahlen, Orte und Corona-Todeszahlen durcheinanderbrachte, schaffte er, der sich selbst einmal als "Fauxpas-Maschine" bezeichnet hat, es, sich nicht wieder selbst aus dem Rennen zu werfen.

Umzug ins Weiße Haus

Nach vier Jahren Pause von der US-Hauptstadt wird Joe Biden demnächst wieder nach Washington, D.C. ziehen. Mit deutlicher Mehrheit der Stimmen der Wahlmänner und -frauen hat er die Präsidentschaftswahl 2020 gewonnen. In seinen Heimatstaaten Pennsylvania und Delaware ebenso wie in Nevada. Am 20. Januar 2021 sollen Biden und Harris am Kapitol in ihre Ämter eingeführt werden.

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