Süddeutsche Zeitung

US-Präsident Biden:Ein neuer Tag für Amerika

Joe Biden ist als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden. Sein erste und größte Mission: Das Land nach vier Jahren Trump wieder in die Normalität zu führen.

Von Alan Cassidy, Washington

Words matter - Worte zählen. Die Worte eines Präsidenten zählen. Oft hat Joe Biden das während seiner Kampagne gesagt, während seines langen, langen Wegs ins Weiße Haus. Und immer wenn er das sagte, getragen und sachte, dann bekamen viele Amerikanerinnen und Amerikaner ein Gefühl dafür, wie das Leben mit einem anderen Präsidenten sein könnte. Mit einem normalen Präsidenten. Einem, der den richtigen Ton trifft. In Momenten der Krise. In all den Momenten, in denen die abgrundtiefe Spaltung dieses Landes zu sehen und zu spüren ist. Es gibt viele davon.

Es war kurz vor Mittag in Washington, als Joe Biden auf der Plattform vor dem Kapitol nach vorne trat, in die Januarsonne blinzelte und jenen Eid ablegte, der ihn zum 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika machte. Dann hielt er eine 21 Minuten lange Rede, an deren Ende die Erkenntnis stand: So könnte es sein. So müsste es sein. Egal, ob da vorne ein Demokrat steht oder ein Republikaner.

Worte zählen - besonders jetzt, nach einer Wahl, die das Land in den Grundfesten erschütterte, nach 400 000 Corona-Toten und mitten in einem Winter, der so düster wie selten ein Winter werden könnte. Der Kontrast zur Rede vor vier Jahren, zu Trumps finsterer Beschwörung des "American Carnage" - des amerikanischen Massakers - hätte kaum größer sein können. Biden versuchte in 21 Minuten zu kitten, was während den vier Jahre zuvor zu Bruch gegangen ist. Es war ein langer, eindringlicher Aufruf zur Einheit. Neunmal verwendete er den Begriff, an einer Stelle sagte er ihn zweimal hintereinander: unity. Er sprach davon, den "uncivil war" zu beenden, den kalten Bürgerkrieg gewissermaßen, der Amerika trenne in Land und Stadt, in Konservative und Linksliberale.

Biden nannte Donald Trump nicht beim Namen. Aber er war immer mitgemeint.

"Politik muss kein rasendes Feuer sein, das alles zerstört, was in seinen Weg gerät. Nicht jede Meinungsverschiedenheit muss ein Grund für totalen Krieg sein." Nur mit Einheit, sagte Biden, werde man die vielfachen Krisen des Landes meistern, nur mit Einheit werde man durch "die tödlichste Phase" der Corona-Pandemie kommen, die den USA noch bevorstehe. Ein rasendes Feuer, ein totaler Krieg: Das war nur eine leicht übertriebene Beschreibung für die politische Auseinandersetzung, wie sie in Donald Trumps Amerika geführt wurde, besonders in den letzten Monaten seiner Amtszeit.

Die Spuren dieser Auseinandersetzung sah Biden mit eigenen Augen, als er auf der Plattform vor dem Kapitol stand. An der exakt gleichen Stelle, wo zwei Wochen zuvor ein Mob im Namen Trumps versucht hatte, Bidens Wahl zum Präsidenten mit einem Angriff auf den Kongress noch zu verhindern. Während Biden redete, ging sein Blick auf die National Mall, die Prachtmeile mit den Museen und Denkmälern, die abgeriegelt und menschenleer war. Auf die Soldaten, die hinter den Absperrungen standen.

Biden nannte Donald Trump nicht beim Namen. Aber er war immer mitgemeint. "Die vergangenen Wochen und Monate haben uns eine schmerzhafte Lektion gelehrt. Es gibt die Wahrheit und es gibt Lügen." Wer Biden zuhörte, erhielt eine Ahnung davon, wie ernst er die Angriffe Trumps und seiner Verbündeten auf die Wahl nimmt. Die Ereignisse des 6. Januar, der Angriff auf das Kapitol, hätten gezeigt, wie fragil die Demokratie sei. "Aber in dieser Stunde, meine Freunde, hat die Demokratie gesiegt."

Es gab nach der Rede vorsichtige Anzeichen dafür, dass die Botschaft ankommen könnte - auch in jener Hälfte des Landes, die für Biden schwierig zu erreichen ist. Bei Fox News meinte Moderator Chris Wallace, das sei die beste Inaugurationsrede seit jener von John F. Kennedy im Jahr 1961 gewesen. Der republikanische Parteiberater Karl Rove sagte: "Für diesen Moment war das eine großartige Ansprache."

Unter normalen Umständen wäre Biden nach seiner Rede zum Festessen mit den Abgeordneten im Kapitol übergegangen. Er wäre vermutlich auch zu einem der Bälle fahren, die in der Stadt sonst abgehalten werden, er hätte dort mit Jill Biden den Tanz eröffnet und gefeiert, ohne allerdings den Champagner anzurühren - Biden trinkt keinen Alkohol. Wenigstens eine Sache, die er mit Donald Trump gemein hat. Doch bei dieser Amtseinführung war nichts wie sonst. Es gab keine Festessen und keine Bälle, es gab nicht einmal die Parade, die den frisch vereidigten Präsidenten üblicherweise über die Pennsylvania Avenue zum Weißen Haus führt.

Stattdessen fuhren Biden und Harris die kurze Strecke über den Potomac River zum Militärfriedhof von Arlington. Sie taten das in Begleitung der früheren US-Präsidenten Barack Obama, George W. Bush und Bill Clinton. Am Grab des Unbekannten Soldaten, zwischen den endlosen Reihen von weißen Grabsteinen, legte Biden einen Kranz nieder.

Trumps Abschied: Eine traurige Zeremonie - die Zeremonie eines schlechten Verlierers.

Vor allem aber gab es an diesem Tag kein Treffen zwischen dem alten Präsidenten und dem neuen. Es gab keinen Händedruck auf den Stufen des Weißen Hauses, keine Tasse Tee im Salon, keine gemeinsame Fahrt zum Kapitol. Stattdessen stellte sich Trump seine eigene Zeremonie zusammen, eine, bei der er nicht auf seinen Nachfolger treffen musste. Es war, gemessen an der Bedeutung, die der Tag der Amtsübergabe in den USA hat, eine traurige Zeremonie - die Zeremonie eines schlechten Verlierers.

Ein letztes Mal stapfte Trump am Morgen über den Rasen des Weißen Hauses, seine Frau Melania an seiner Seite. Ein letztes Mal setzte er sich in den Hubschrauber, der ihn zur Luftwaffenbasis Andrews außerhalb von Washington flog. Als der Hubschrauber über dem Präsidentensitz hochstieg, um in einem Bogen aus der Stadt zu fliegen, jubelten unten auf der Strasse vor dem Weißen Haus, auf der "Black Lives Matter"-Plaza, eine kleine Schar von Aktivisten und Zuschauern: Trump war weg. Endlich weg. Auf dem Rollfeld der Luftwaffenbasis sagte der scheidende Präsident: "Habt ein gutes Leben! Wir sehen uns bald wieder." Trump mag das als Versprechen an seine Anhänger gemeint haben, von denen es immer noch sehr viele gibt, und als Drohung an seine Gegner, von denen es noch viele mehr gibt - aber irgendwie klangen seine Worte hohl. Trumps Bann: Er schien bereits gebrochen.

Um zu sehen, wie einsam es in Washington zum Schluss um Trump geworden war, genügte ein Blick auf die Zuschauer, die auf dem Rollfeld standen, um ihn zu verabschieden: Trumps Kinder waren da und ihre Familien, ein paar Dutzend nachrangige Mitarbeiter und Unterstützer. Doch da war kein Vizepräsident Mike Pence, da waren keine der Spitzen der Republikaner im Kongress, da waren überhaupt nicht viele Leute, die sich mit Trump noch zeigen wollten - nicht an diesem Tag, nicht, nachdem seine Präsidentschaft in Flammen aufgegangen war.

Während Trump kurz vor 9 Uhr zum letzten Mal die Stufen zur Air Force One hochstieg, die ihn in sein Exil in Florida flog, war Mike Pence unterwegs zum Gottesdienst mit Joe Biden. "It's a new day in America", hatte Biden noch am Morgen getwittert und genau so fühlte es sich auch an. Als ob Trump nie gewesen wäre, zeigte sich das politische Establishment vor dem Kapitol und zelebrierte einen Neuanfang, einen "fresh start".

Biden machte sich an die Arbeit. 17 Verordnungen und Dekrete wollte er unterzeichnen.

Einen Neuanfang, der sich auch in der viel bejubelten Vereidigung von Kamala Harris zeigte - der ersten Frau in diesem Amt und der ersten schwarzen Frau. Zu spüren war der Neuanfang auch während des Vortrags der jungen Dichterin Amanda Gorman, die in einem kurzen Gedicht all das ausdrückte, was Biden zuvor in seiner Rede gesagt hatte. Unity.

Als die Zeremonien vorbei waren, fuhr Biden ins Weiße Haus - jenes Weiße Haus, das er als Vizepräsident Obamas vor exakt vier Jahren das letzte Mal betreten hatte. Biden machte sich an die Arbeit. 17 Verordnungen und Dekrete wollte er unterzeichnen. Geplant waren: eher symbolisch - eine nationale Maskenpflicht in Bundesgebäuden und - mehr als nur symbolisch - den Wiedereintritt der USA ins Pariser Klimaabkommen. Er wollte die Einreisesperre für Menschen aus muslimischen Ländern aufheben, den Mauerbau an der Grenze zu Mexiko und den Bau einer Erdölpipeline stoppen. Kurz: Der Rückbau von Trumps Hinterlassenschaften sollte von Tag eins an beginnen.

Im Wahlkampf hatten viele Demokraten befürchtet, dass Biden ein zaudernder Präsident würde, einer, der sich nichts traut. Diese Stimmen sind nun fürs erste verstummt.

Was das mit der so eindringlich beschworenen Einheit macht, die Biden im Land herbeiführen will, ist allerdings eine andere Frage. Worte zählen, das bestimmt. Doch Taten halt auch.

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