Betrug am Wähler:Petra Hinz kann selbst entscheiden, wann sie den Bundestag verlässt

SPD-Abgeordnete Hinz legt Bundestagsmandat nieder

Petra Hinz kann nur selbst entscheiden, ob und wann sie ihr Bundestagsmandat niederlegt.

(Foto: dpa)

Ihre Parteiämter will die falsche Juristin aufgeben, ihr Bundestagsmandat hat Hinz allerdings noch nicht niedergelegt. Das muss sie auch nicht - und dafür gibt es gute Gründe.

Analyse von Thorsten Denkler, Berlin

Petra Hinz ist erst mal abgetaucht. Die Bundestagsabgeordnete der SPD hat ihren Lebenslauf gefälscht, hat sich zur Juristin gemacht, ohne je eine juristische Fakultät besucht zu haben. Vor gut drei Wochen ist sie aufgeflogen. Danach hat sie über ihren Anwalt zugesichert, ihr Mandat aufgeben zu wollen. Druck kam aus der Bundestagsfraktion und aus Hinz' Unterbezirksverband Essen, der über Parteiaustritte als Reaktion auf die Affäre klagt. In all dem Ungemach wäre Hinz' Rückzug aus dem Bundestag ein honoriger und zudem seltener Schritt gewesen.

Nur, sie ist bisher nicht zurückgetreten. In der Bundestagsverwaltung ist noch kein Schreiben zu einem Mandatsverzicht eingegangen. Eine Frist der Essener SPD, das Mandat freizugeben, hat sie am Mittwoch verstreichen lassen. Bis zu diesem Donnerstag war Petra Hinz nicht erreichbar - dann ging bei den Essener Genossen der 54-Jährigen eine E-Mail ein: Darin kündigt sie dem lokalen SPD-Chef und NRW-Justizminister Thomas Kutschaty zufolge an, alle Ämter in der Partei und ihrem Ortsverein niederlegen zu wollen. Außerdem verspricht sie, sich "zu einem späteren Zeitpunkt öffentlich zu äußern".

Davon, ihr Bundestagsmandat niederzulegen, spricht Hinz auch in dieser Mail nicht. Sie hat sich gegenüber der Bundestagsverwaltung krankgemeldet. Ihr Büro ist verwaist. Ihre Mitarbeiter haben sie allesamt verlassen, so will es zumindest die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erfahren haben.

Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Vielleicht will Hinz erst den Schock überwinden und nach der Sommerpause alles regeln. Vielleicht hat sie es sich auch anders überlegt und behält ihr Mandat noch bis zur Bundestagswahl 2017. Dann hätte sie nach drei Legislaturperioden ohnehin aufhören wollen.

Und wenn Hinz einfach bleibt? Dann bleibt sie eben

Noch sieht die SPD-Bundestagsfraktion keinen Anlass, Hinz aus der Fraktion auszuschließen. Sie habe ja erklärt, dass sie ihr Mandat niederlegen wolle. Dann gebe es für einen Ausschluss keine Notwendigkeit, sagte ein Sprecher. Ein Ausschluss wäre ohnehin frühestens in vier Wochen möglich, wenn die Fraktion erstmals nach der Sommerpause wieder zusammenkommt.

Was aber tun, wenn Hinz einfach bleibt? Die Antwort ist einfach: Dann bleibt sie. Die Fraktion müsste sie zwar verlassen. Sie würde aber als fraktionslose Abgeordnete in den hintersten Reihen des Bundestages einen Einzelplatz zugewiesen bekommen. Sie würde ihr Büro behalten und noch ein Jahr länger ihre Abgeordnetendiäten bekommen.

Viele empfinden das als ungerecht. Hinz hat mit einem falschen Lebenslauf ihre Wähler betrogen. Hat eine Kompetenz vorgegaukelt, die sie - zumindest auf dem Papier - nicht hat. Das müsste doch Grund genug sein, ihr das Mandat zu entziehen. Für jeden Arbeitnehmer wäre es ein Kündigungsgrund, wenn er gegenüber dem Arbeitgeber im Lebenslauf falsche Angaben macht.

Mag sein. Ein Abgeordnetenmandat aber ist eben kein normaler Job mit geregelten Arbeitszeiten und Vorgesetzen, die einem sagen, was zu tun und zu lassen ist. Das Mandat ist vom Grundgesetz besonders geschützt. Wer es durch Wahl erwirbt, der behält es mindestens bis zur nächsten Wahl. Das ist keine neue Erfahrung.

Der Fall Guttenberg und andere

Der Plagiator Karl-Theodor zu Guttenberg hat sein Mandat erst eineinhalb Monate nach seinem Rücktritt als Verteidigungsminister niedergelegt. Annette Schavan blieb noch mehr als ein Jahr Bundestagsabgeordnete, nachdem ihr der Doktortitel 2013 aberkannt wurde und sie vom Amt der Bundesbildungsministerin zurückgetreten war.

Ein krasserer Fall ist der von Dieter Jasper. Weniger als ein halbes Jahr nach der Bundestagwahl 2009 ist der CDU-Abgeordnete mit einem gekauften Doktortitel auffällig geworden. Den hatte er an der schweizerischen Briefkasten-Universität "Teufen" erworben. Eine Titelmühle, die Doktortitel gegen Bares vergibt, ohne jede staatliche Anerkennung. Der Ärger war groß, Jasper verlor seine Reputation. Den Titel, mit dem er auf Wahlplakaten geworben hatte, legte er ab. Im Bundestag aber blieb er noch die volle Legislaturperiode bis Ende 2013.

Auch damals gab es Forderungen, ihm das Mandat zu entziehen. Weil das nicht möglich ist, hat der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages darüber beraten, ob die Wahl in Jaspers Wahlkreis möglicherweise ungültig sei - er hatte 2009 mit nur 2000 Stimmen Vorsprung das Direktmandat gewonnen. Vielleicht haben sich die Wähler ja von Jaspers falschem Doktortitel blenden lassen. Das war aber nicht nachweisbar.

Wann ein Mandat entzogen werden kann

Das Mandat ist vom Grundgesetz besonders geschützt. Der Abgeordnete ist ein Vertreter des Volkes und nur sich und seinem Gewissen verpflichtet. Es gibt also schon mal keinen Chef, der ihn feuern könnte. Das können nur die Wähler, die ihn nicht noch einmal wählen, wenn er ihr Vertrauen missbraucht hat.

Rechtlich gibt es nur vier Gründe, nach denen ein Mandat entzogen werden kann:

  • Wenn erstens das Mandat ungültig erworben wurde, etwa durch Wahlbetrug.
  • Wenn zweitens ein Wahlergebnis neu festgestellt werden muss, weil es etwa Fehler in der Stimmauszählung gab.
  • Wenn drittens die Wählbarkeitsvoraussetzungen wegfallen. Dazu muss - strafrechtlich gesehen - ein Gericht eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verhängen.
  • Oder viertens, wenn die Partei, für die ein Mandatsträger angetreten ist, vom Bundesverfassungsgericht verboten wird.

Erst drei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde einem Abgeordneten das Mandat entzogen. Alle drei Fälle stammen aus den Jahren 1953 bis 1956. Nie ging es um eine strafrechtliche Frage.

Der Abgeordnete soll mit den hohen Hürden geschützt werden "vor Einflussnahme von Wählern, Wählergruppen, Parteien, Fraktionen oder anderen politischen und wirtschaftlichen Gruppen", heißt es auf den Seiten des Bundestages. Er soll also nicht sein Mandat verlieren können, nur weil er anderer Meinung ist oder für oder gegen etwas gestimmt hat.

In der Praxis ist ein Mandatsträger natürlich selten völlig unabhängig. Aber im Grunde ist das eine persönliche Entscheidung. Wer keine Karriereabsichten hat und nur eine Legislatur im Bundestag verbringen will, der muss sich auch um niemanden scheren.

Geschützt ist der Mandatsträger in jedem Fall vor willkürlichen staatlichen Übergriffen. Die Immunität ist das Sicherungssystem, das Abgeordnete vor unzulässiger Strafverfolgung und damit letztlich den Bundestag als Institution schützt. Das ist im wiedervereinigten Deutschland vielleicht nicht das alles entscheidende Problem mehr. Selbst Bundestagspräsident Norbert Lammert hat kürzlich die generelle Abschaffung der Immunität ins Spiel gebracht.

Tatsächlich ist erst sieben Mal in der Geschichte des Bundestages ein Ermittlungsverfahren vom Immunitätsausschuss des Bundestages verhindert worden. Die Immunität aller Abgeordneten wird übrigens traditionell zu Beginn einer Legislaturperiode für ihre Dauer aufgehoben. Der Immunitätsausschuss hat danach nur noch eine Art Einspruchsrecht. Formal gesehen informiert eine Staatsanwaltschaft den Bundestag nur über anstehende Ermittlungen. Der Ausschuss kann dann Einspruch einlegen. Macht er das nicht, kann die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit aufnehmen.

Im Fall Hinz würde das nicht anders laufen. Aber selbst wenn Ermittlungen aufgenommen werden, selbst wenn Petra Hinz verurteilt werden würde zu einer kleinen Freiheitsstrafe, was nicht zu erwarten ist: Ihr Mandat bliebe unangetastet, solange sie es nicht abgeben will.

Die Unabhängigkeit der Abgeordneten ist eben ein höheres Gut als die mögliche Ungerechtigkeit, dass jemand sein Mandat nach einem Fehlverhalten noch einige Zeit behält. In der Abwägung ist dies das kleinere Übel.

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