Besuch bei Hosea Dutschke:Sanft wie der Revolutionär

Geboren 1968, gebettet auf Dynamit - wie der Sohn des Studentenführers in Dänemark seinen eigenen Weg durch die Institutionen gefunden hat.

Willi Winkler

Århus, im April - Es war an Heiligabend und nicht anders als in anderen Familien. Der Baum wurde geschmückt, Vater, Mutter und die beiden Kinder versammelten sich im dunklen Wohnzimmer und freuten sich am Kerzenschimmer. Die Mutter, schwanger bereits mit einem weiteren Kind, führte die Gans in der Küche der letzten Festreife zu, während der Vater vor dem Essen noch ein Bad nehmen wollte.

Besuch bei Hosea Dutschke: Hosea Dutschke, der älteste Sohn Rudi Dutschkes, ist Verwaltungsdirektor für Pflege und Gesundheit, in der dänischen Stadt Århus

Hosea Dutschke, der älteste Sohn Rudi Dutschkes, ist Verwaltungsdirektor für Pflege und Gesundheit, in der dänischen Stadt Århus

(Foto: Foto: Stadt Århus)

Lange kam er nicht zurück, und als seine Frau nachschauen ging, lag er tot in der Wanne, ertrunken bei einem epileptischen Anfall. Seine Frau, sein Sohn versuchten ihn wiederzubeleben, zogen ihn aus der Wanne, gossen ihm kaltes Wasser über den Kopf, vergeblich. Rudi Dutschke war 39-jährig an den Spätfolgen des Anschlags gestorben, den elf Jahre zuvor, am 11. April 1968, ein Hilfsarbeiter auf ihn verübt hatte.

Dutschke wurde in Berlin beerdigt. Sein Sohn Hosea-Che, wenige Tage vor seinem zwölften Geburtstag, wollte auf keinen Fall mit zur Beerdigung. Er versteckte sich im Bett, und als ihm seine Mutter das Kissen wegzog, sah sie, dass er sich Ohren und Nase mit Watte verstopft hatte.

Heute gäbe es für so einen Fall ausreichend Betreuung, sagt Hosea Dutschke, heute würden sich Vormundschaftsämter, Therapeuten, Seelsorger nach einem solchen Schicksalsschlag um die Hinterbliebenen kümmern. Die Familie hat es auch so geschafft: Dutschkes Witwe ist gerade aus Vietnam zurückgekommen, wo sie Englisch unterrichtet hat, der nachgeborene Marek arbeitet an der Hertie School of Governance, die jüngere Schwester Polly lebt im dänischen Århus. "Sie arbeitet bei uns als Krankenschwester, und ich bin ihr Boss", sagt der Verwaltungsdirektor Hosea Dutschke, der seinen zweiten Vornamen, den ihm die Eltern 1968 in Erinnerung an den toten Revolutionär Che Guevara gegeben haben, im Alltag nicht mehr verwendet.

Das Baby hat Glück

Wenn einer 68er ist, dann er. Hosea-Che Dutschke ist eine Person der Zeitgeschichte, einer der am meisten fotografierten Menschen von 1968. Als Berliner Mitbürger den vermeintlichen Aufwiegler Rudi Dutschke am liebsten "vergast" oder "ab ins KZ" geschickt hätten, brachte das Kind, das Dutschkes amerikanische Frau Gretchen am 12. Januar 1968 zur Welt brachte, einen menschlichen Faktor in die aufgeheizte politische Debatte.

Der Revolutionsführer zeigte sich mit seinem Erstgeborenen, hob das Baby für alle hoch, halb aus Stolz, halb als Schutzschild, er wickelte es zum freudigen Staunen der Fotografen sogar selber, und dann ist da die Geschichte mit den Dynamitstangen.

Der ebenso reiche wie revolutionsbegeisterte Verleger Giangiacomo Feltrinelli hatte sie im Februar 1968 zum Vietnamkongress aus Mailand mitgebracht, um die deutschen Genossen zur Tat zu drängen. Es existieren leichte Varianten der Geschichte, aber im Kern ist sie unbestritten: dass Rudi Dutschke den kaum einen Monat alten Hosea-Che im Tragekorb auf das Dynamit bettete, um den Sprengstoff unbeobachtet transportieren zu können. Im Kreis der Genossen - Gaston Salvatore gehörte dazu, Christian Semler, der Liedermacher Franz Josef Degenhardt - wurde ausgiebig diskutiert, welche Sabotageakte an welchen amerikanischen Militäreinrichtungen sich mit dem Material bewerkstelligen ließen. Zum Glück für alle Beteiligten und vor allem für das Baby verschwand der Sprengstoff dann spurlos.

Lesen Sie auf Seite 2, was beim Attentat auf Rudi Dutschke passierte.

Sanft wie der Revolutionär

Zwei Monate danach versuchte Josef Bachmann, aufgehetzt nicht zuletzt durch die Parolen der Springer-Zeitungen, Dutschke umzubringen. Der wusste, dass er sich wegen seiner außerparlamentarischen Politik in Lebensgefahr befand, vertraute aber auf sein Glück. Er wollte ohnehin weg aus Berlin, den "politischen Kampf", wie auch immer, in Amerika fortsetzen. Die kleine Familie bereitete den Umzug vor und war für die letzten Wochen im Haus des evangelischen Pfarrers Helmut Gollwitzer untergekommen. Hosea-Che hatte sich erkältet, und so radelte sein Vater an jenem 11. April, es war der Gründonnerstag, zum Kurfürstendamm, um Nasentropfen zu holen.

Die Apotheke blieb über Mittag geschlossen, er wartete, an sein Fahrrad gelehnt, als ein junger Mann auf ihn zutrat, fragte, ob er Dutschke sei und dann zu schießen anfing. Drei Kugeln, in den Kopf, in die Schulter. Dutschke sackte zusammen, schrie um Hilfe, schrie nach Vater und Mutter. Eilends wurde er ins Krankenhaus geschafft, am Kurfürstendamm zurück blieben das Fahrrad und ein Schuh. Während die Polizei den um sich schießenden Bachmann festnahm, wurde sein Opfer operiert und kam knapp mit dem Leben davon.

Jetzt war die Angst da, und die Flucht begann. Die gierigen Zeitungen wollten Bilder und Exklusivgeschichten vom Krankenbett des invalidisierten Studentenführers. Erst in der Schweiz, dann in Italien bei Feltrinelli und bei dem Komponisten Hans Werner Henze, sollte er sich erholen, das Baby Hosea immer dabei. Mühsam lernte Dutschke wieder zu sprechen, zu schreiben.

Nach Berlin wollte er nicht zurück, fand dann Aufnahme beim emigrierten Schriftsteller Erich Fried in London. In England lösten die Konservativen die Labour-Regierung ab, und wieder musste die Familie, inzwischen vergrößert um Polly-Nicole, das Land verlassen, bis sie Zuflucht in Dänemark fanden und Dutschke einen Lehrauftrag an der Universität Århus erhielt.

Sie waren keine gewöhnliche Familie und immer ein bisschen auffällig: "Wir hatten als Kinder mehr Rechte, wir waren an allem beteiligt", sagte Hosea Dutschke. Es war auch für das Skandinavien der siebziger Jahre ungewöhnlich, dass ihr Vater im Park mit ihnen Fußball spielte. Seine Mutter fuhr eine Zeitlang einen Mercedes, der mit Blumen in allen Farben bemalt war: "Es hat Spaß gemacht, aber manchmal fühlte man sich ein bisschen draußen." Gretchen Dutschke sorgte dafür, dass sie früh anfingen, biodynamisch und ökologisch bewusst zu essen.

Wie sein zwölf Jahre jüngerer Bruder Marek sieht Hosea Dutschke seinem Vater erstaunlich ähnlich. Er ist eher untersetzt, längst nicht so gestenreich wie der Mann, den er immer nur "Rudi" nennt, vielmehr sehr ruhig und geradezu fürsorglich bemüht, verstanden zu werden. Da er es am wenigsten gebraucht, spricht er Deutsch inzwischen weniger gut als Dänisch und Englisch. Aber es ist die Stimme, dieser gutturale, leicht bühnenhafte Singsang, fast ganz der Vater.

"Ein evolutionärer Marsch"

"Im Grunde bin ich ja Bürokrat", sagt Hosea, als hätte er die Pointe schon vorbereitet. Seit knapp zwei Jahren ist der junge Dutschke Verwaltungsdirektor für Pflege und Gesundheit, leitet also das Sozialreferat von Århus. Davor hat er Politikwissenschaft studiert, ist außerdem diplomierter Journalist, hat einen Film über die aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrten Nazis gedreht. Vor dem Abitur liebäugelte er kurz mit der Biologie, aber nur kurz, dann wusste er wieder, dass er seinem Vater und seiner Mutter nachfolgen und praktische Politik machen würde.

Lesen Sie auf Seite 3, wie Hosea Dutschke über eine Karrirere in der Politik denkt.

Sanft wie der Revolutionär

Schon auf der Universität ist er in die Sozialistische Volkspartei eingetreten, hat Studentenpolitik gemacht, aber für Parteipolitik hat er heute keine Zeit mehr. Die Familie, die tägliche Arbeit im Amt ist einfach wichtiger. Århus zählt fast 300.000 Einwohner und ist die zweitgrößte Stadt Dänemarks. Die praktische Politik, also Pflegschaften organisieren, Stellenpläne verwalten, Therapien verbessern, den Fuhrpark der Behörde von Benzin- auf Elektroautos umstellen, soll ihn aber nicht daran hindern, groß und weiter zu denken. "Ohne Vision arbeitet man im Nichts", sagte er und setzt, zum besseren Verständnis das berlinische "Nüscht" nach.

Hosea Dutschke ist der sprichwörtliche Begriff des "langen Marsches durch die Institutionen", zu denen sein Vater seine Genossen einst aufforderte, wohl geläufig, aber er arbeite lieber an kleinen lokalen Veränderungen, "für die Alten, für die Pflegebedürftigen", sagt er. "Es ist eher ein evolutionärer Marsch." Bei dieser Arbeit ist keine Gelegenheit für die großen Worte, mit denen sein Vater einst die Berliner Studenten begeisterte, sondern das tägliche Klein-Klein, "praktische Politik, ganz nah dranne am einzelnen Menschen". Er sagt wirklich "dranne", denn er ist doch Berliner.

Hosea Dutschke dürfte seit dem Minister Johann Friedrich Struensee (1737 bis 1772) der einzige Ausländer sein, der in der dänischen Hierarchie so weit aufgestiegen ist. Durch seinen Vater besitzt er die deutsche, durch seine Mutter die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zwar rechnet er damit, demnächst auch die dänische Staatsbürgerschaft zuerkannt zu bekommen und sieht Århus als seine Heimat, aber eigentlich betrachtet er sich als Berliner. Er ist in Berlin geboren und hat später ein Jahr an der Freien Universität studiert. Bei jeder Landung spürt er sofort die besondere Luft dort.

An der Uni des Aufruhrs

Auf der Website der Kommune Århus herrscht eine "Kontrolfri Zone". Die Botschaft lautet: "Wir glauben an dich." Jeder Mitarbeiter darf sich hier äußern, darf Kritik üben, darf sogar, wenn ihm alles zu viel wird, an die Öffentlichkeit gehen und sich in der Zeitung über seine Vorgesetzten beschweren. "Wir glauben an die Meinungsfreiheit", sagt der Vorgesetzte von 7000 Mitarbeitern. Führt das nicht zu Intrigen und Denunziation? "Nein, überhaupt nicht." Und die Effizienz, leidet die nicht darunter? "Im Gegenteil, Offenheit fördert die Effizienz in der Verwaltung."

Hosea Dutschke zitiert einen Satz, den der damals noch linkspopulistische Liedermacher Wolf Biermann 1980 bei der Beerdigung Rudi Dutschkes sang: "Ein bisschen zu sanft, zu sanft wie alle Radikalen." Der Sohn muss ein außergewöhnlich sanfter Vorgesetzter sein. Er geht früher nach Hause, wenn seine Frau, die für das dänische Filminstitut arbeitet, wieder für eine Woche nach Kopenhagen muss, und kümmert sich um die beiden Kinder. Er will auch gar nicht mehr als 40 Stunden arbeiten, obwohl er viel unterwegs ist.

Als er seinerzeit ein Jahr an der Freien Universität in Berlin studierte, 25 Jahre nach seinem Vater, stellte er sich den Kommilitonen als "Hosea" vor, nichts weiter, aber die Professoren wussten natürlich, dass sie den Sohn des Mannes vor sich hatten, mit dem sie und für den sie vor Jahrzehnten auf die Straße gegangen waren. Die Auseinandersetzung um das Erbe von 1968 nimmt er am Rande und bestenfalls amüsiert wahr. "Das Leben ist zu kurz dafür. Ich will nicht in der Vorzeit leben. Was zählt, ist hier und jetzt." Hier und Jetzt ist Århus.

Sein Bruder Marek hat bei den Grünen kandidiert, vergeblich. Hosea interessiert das nicht. "Parteipolitik bleibt für mich im Keller unten. Kann sein, dass das noch kommt, aber im Moment ist das Wichtigste, was ich jetzt hier mache, und meine Familie, meine Kinder."

"Seltsam" ist das Wort, das ihm einfällt, wenn er an sich als das berühmte Baby denkt, als Teilnehmer an Ereignissen, die vor 40 Jahren alle aufwühlten. Er ist das auf den Bildern und ist es doch nicht. Nun, am 40. Jahrestag des Mordanschlags, wollen die stets kitschbereiten Grünen auch ein wenig vom Märtyrer-Nimbus des großen Vordenkers profitieren und veranstalten deshalb auf dem Kurfürstendamm in Berlin allen Ernstes eine "Fahrradniederlegung". Claudia Roth, Christian Ströbele sind dabei, auch Gretchen Dutschke. Hosea fährt nicht nach Berlin. Er hat einfach zu viel zu tun.

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