Süddeutsche Zeitung

Besuch bei den Fußball Ultras von Çarşı Beşiktaş:Die Retter der Revolution?

Während der Gezi-Proteste waren sie in der ersten Reihe, heute stehen sie vor Gericht. Die Doku-Reihe "Coming of Rage" besucht die Ultras des Istanbuler Vereins Beşiktaş.

Von Sammy Khamis und Hakan Tanriverdi, Istanbul

Wie bekommt man Kontakt zu einer Fußball-Ultragruppe, die keine Lust auf Journalisten hat und lieber Pyros im Stadion abbrennt? Indem man zu spät kommt. Wir sind in Berlin, exakt ein Jahr ist das her, und viel zu spät dran für einen Interviewtermin. Also bestellen wir per App ein Taxi. Der Fahrer hat einen türkischen Namen und einen Mini-Schal in seinem Auto hängen: Er ist ein Fan von Beşiktaş Istanbul.

Wir überlegen zu dieser Zeit, uns mit den Ultras, also Hardcore-Fans, dieses Vereins zu treffen. Die Gruppe nennt sich Çarşı (türkisch für Basar) und ist irre aktiv: Bei den Protesten rund um den Gezi-Park konnten wir beobachten, dass es die Çarşı-Fans waren, die den ersten Reihen mitgemischt haben. Wäre doch spannend, sich von ihnen erzählen zu lassen, was diese Proteste ihrer Meinung nach verändert haben. Aber wie kommt man ran an diese Menschen, wenn man in Deutschland ist und nicht in Istanbul?

Die Antwort: Über Taxifahrer. Wie sich herausstellt, ist der junge Mann Teil der Çarşı-Gruppe. Berliner Diaspora sozusagen. Wir lassen uns seine Nummer geben, steigen aus dem Taxi und speichern die Fahrt als "gut gemeint, daraus wird aber nichts" ab. Versprochen wird ja viel.

Zwei Wochen später melden wir uns per SMS - und erhalten, wie erwartet, keine Reaktion. Schade eigentlich. Wir überlegen also weiter, wie wir Çarşı-Mitglieder erreichen können und haben alle nötigen E-Mails schon absendefertig im Postfach, als sich der Taxifahrer meldet. "Sorry", sagt er. "ich hab geheiratet. War ein wenig stressig, wie ihr euch sicher vorstellen könnt". Er gibt uns den Facebook-Kontakt von Ekin. Einer der Gründungsmitglieder in Berlin, der auch in Istanbul von Anfang an dabei ist.

Und so fahren wir einige Wochen später nach Istanbul und treffen uns mit Ekin aus Berlin. Das Erste, das er klarstellen muss: "Bei Gezi ging es nicht nur um ein paar Bäume! Gezi war der Aufstand des türkischen Volkes - und dafür brauchten sie die Ultras von Çarşı."

Die Fußball-Fans von Çarşı sind ein Bindemittel bei den Protesten: Sie können Massen an Menschen mobilisieren und die Ultras sind - ähnlich wie die Ultras in Ägypten - die einzige Gruppe, die Erfahrung im Kampf mit der Polizei hatte. Ekin sagt das, und die Wunden auf seinen Oberschenkeln zeigen das. Sie sind aus den 80er Jahren, als Ekin selbst noch gegen andere Ultra-Gruppen und gegen die Polizei gekämpft hat. Seit den Gezi Protesten 2013 ist dieser Kampf auch politisch. In der Türkei sehen viele Gezi-Anhänger die Ultras als "Retter der Revolution".

Aber die Ultras haben nicht nur Anhänger. Im Gegenteil. Für ihr Einschreiten bei den Protesten stehen derzeit 35 Çarşı-Supporter vor Gericht. Die Anklage lautet unter anderem auf Putschversuch. Strafmaß: lebenslang. Zwei Jahre nach den Protesten könnte es jetzt ungemütlich für die Ultras werden. Viele haben Stadionverbot Die Verhandlung, ursprünglich für Ende 2014 angesetzt, wurde mehrfach verschoben. Am 26. Juni wird nun weiter verhandelt.

Jeden Montag zeigt SZ.de eine neue Folge der Reihe "Coming of Rage". Sie ist konzipiert und finanziert vom Münchner Redaktions- und Formatbüro vydy.tv. Für ihren Youtube-Channel produzieren sie Reportagen zu politisch-gesellschaftlichen Themen. Das Format lebt von Ihrem Feedback: Diskutieren Sie mit den Machern auf Youtube, Facebook und Twitter. Hakan Tanriverdi arbeitet für SZ.de und vydy.tv

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