Süddeutsche Zeitung

Bertelsmann Transformationsindex:Lichtblick Elfenbeinküste

Ein "ernüchterndes" Bild in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Forscher beklagen, dass die Welt weniger demokratisch geworden ist - vor allem in den arabischen Ländern und in Osteuropa. Fortschritte machen dagegen arme Staaten in Westafrika.

Von Ronen Steinke und Paul-Anton Krüger

Es ist kühler geworden auf dem Globus, ungemütlicher. Das verrät nicht der Blick auf die Wetterkarte, aber der Blick auf die politische Großwetterlage. Wie ist das Klima für Andersdenkende? Das fragen Politologen, Soziologen, Entwicklungshelfer. Wie frei lässt sich atmen in den 129 Schwellen- und Entwicklungsländern, in denen heute sechs von sieben Milliarden Menschen leben? Eine Antwort darauf, wahrscheinlich die belastbarste, gibt alle zwei Jahre der Bertelsmann Transformationsindex (BTI), dessen neue Ergebnisse an diesem Mittwoch erscheinen und der Süddeutschen Zeitung vorliegen.

Es ist ein Datensatz, der erst seit 2003 aufgebaut wird, die größte Metastudie dieser Art weltweit, umfassender selbst als der Länderbericht der Weltbank. 250 Experten aus Think Tanks und Universitäten haben dafür ihre Berichte an die Bertelsmann-Stiftung geschickt, sie haben Faktoren wie Rechtssicherheit, staatliche Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und faire Wahlen bewertet. Und die Klarheit, mit der sie diesmal eine Antwort geben, ist neu.

Auch wenn in vielen Schwellenländern die Wirtschaft zweistellige Wachstumsraten verzeichnet, auch wenn sich vielerorts die Zahl der Mobiltelefone verdoppelt oder verdreifacht hat - bei den Messwerten für die Demokratie weist der Index nach unten: In den vergangenen acht Jahren haben mehr Staaten Bürgerrechte abgebaut als aufgebaut.

Im Westen Afrikas lockern einige Regenten ihren Griff

Die Skala reicht vom Extrembeispiel Mali, wo eine demokratische Tradition abrupt durch einen Putsch beendet worden ist, bis hin zu Russland, wo schon eine vergleichsweise kleine und schleichende Verschlechterung genügt hat, um aus Sicht der Forscher einen kritischen Punkt zu überschreiten: Das Land wird fortan nicht mehr als Demokratie geführt, sondern als Autokratie. Auch in Angola, Guinea, Mali, Nepal und Sri Lanka hat sich seit 2012 die Situation so weit verschlechtert, dass sie nun als Autokratien gezählt werden; Thailand steht kurz davor.

Ein halbes Jahrhundert nachdem die Schwellen- und Entwicklungsländer ihre Kolonialherren nach Hause schicken konnten und ein Vierteljahrhundert nachdem die Einparteienherrschaft des Ostblocks aufgebrochen wurde, dokumentiert der BTI nicht nur eine Stagnation, sondern in der Summe sogar einen Rückschritt: In 59 von 75 Demokratien seien demokratische Standards heute schlechter gewährleistet als noch vor acht Jahren.

Es gibt durchaus Tauwetter an manchen Ecken des Globus, die Forscher zeichnen da ein differenziertes Bild: Im Westen Afrikas etwa, wo einige der ärmsten Länder der Welt liegen, lockern einige Regenten gerade ihren Griff. Die Elfenbeinküste hat in den zurückliegenden acht Jahren sogar weltweit den größten Fortschritt in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gemacht, freilich von einem niedrigen Niveau aus kommend. Es ist ein Fortschritt um mehr als drei Punkte auf der 10-Punkte-Skala der Forscher, und das trotz eines zeitweiligen Bürgerkriegs. Ähnlich hat sich die Lage in Tunesien aufgehellt, in Kirgistan oder in Myanmar. Dort sind Wähler, Richter und Journalisten freier geworden.

Der Blick auf die Weltkugel zeigt aber, dass ein anderer Trend dieses Jahrzehnt dominiert hat. Besonders augenfällig ist die Entwicklung in Osteuropa: Albanien, Bulgarien, Rumänien und Ungarn - in all diesen Ländern haben die Regierenden ihre Bevölkerungen zuletzt auf größerem Abstand gehalten. Unter dem Druck der EU haben zwar einige Staaten Südosteuropas, die einen Beitritt zur Union anstrebten, ihre Rechtssysteme reformiert.

In der Praxis aber sind die Begehrlichkeiten der Machthaber groß geblieben. Vor allem in Serbien sind missliebige Juristen zuletzt von ihren Posten entfernt worden - ein Weg, den neuerdings auch die Türkei einschlägt. Bulgarien und Rumänien, die schon seit 2007 EU-Mitglieder sind, haben zwar ökonomisch Fortschritte gemacht. Politisch allerdings, so bilanzieren die Forscher, sei "die EU-Mitgliedschaft im Hinblick auf die Konsolidierung ihrer demokratischen politischen Systeme bislang ohne Effekt geblieben".

Ein insgesamt "ernüchterndes" Bild zeichnen die Forscher von der Entwicklung in der arabischen Welt. Drei Jahre nach dem Ausbruch der Rebellionen in der Region haben neben Tunesien und Ägypten nur Libyen und Algerien eine positive Entwicklung hin zu demokratischen Strukturen zu verzeichnen. Die Umwälzungen haben die Studie in diesem Punkt aber schon wieder überholt: Die Daten stammen aus einer Zeit, da in Ägypten gerade Präsident Mohammed Mursi frisch ins Amt gekommen war. Inzwischen ist vom Optimismus nichts übrig: Ägypten würde heute schon nicht mehr als Demokratie klassifiziert, erklären die Verfasser, sondern wieder als Autokratie.

Verschlechterung durch wachsenden Einfluss religiöser Dogmen

Zudem habe sich die Debatte über Teilhabe und Bürgerrechte auf eine kleine Elite beschränkt. Vielfach dagegen verteidigen die Herrschenden ihre Macht mit zunehmender Brutalität. Besonders negativ habe sich die Lage in Syrien entwickelt, aber auch in Bahrain, wo die herrschende Minderheit der Sunniten mit zunehmender Härte gegen die Bevölkerungsmehrheit der Schiiten vorgeht.

Eine Triebfeder für Verschlechterungen sehen die Forscher im wachsenden Einfluss religiöser Dogmen. Wo der Staat sich ein Dogma zu eigen macht, leidet die Gewissensfreiheit der Individuen, und da ist typischerweise auch eine Schlechterstellung Andersgläubiger die Folge. Insgesamt bei 40 Staaten stellen die Forscher eine solche Entwicklung fest, und nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent, wo 25 dieser Länder liegen, sondern auch etwa in Kasachstan, der Türkei und Brasilien.

Für Lateinamerika ziehen die Forscher eine gemischte Bilanz: Zwar hielten die Staaten dort neben denen in Osteuropa als einzige Region an den Leitbildern einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie sowie einer sozialstaatlich eingebetteten Marktwirtschaft fest. Sie seien aber in den vergangenen Jahre kaum dabei vorangekommen, diese Standards weiter zu etablieren. Die Entwicklungen in Brasilien sowie in Chile zeigten, dass selbst in den fortschrittlichsten Ländern ein "Missverhältnis zwischen sozialen Forderungen und der Reaktionsfähigkeit der Eliten" bestehe

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SZ vom 22.01.2014/kjan
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