Süddeutsche Zeitung

Berliner Republik:Im Maschinenraum der Politik

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Peter Dausend und Horand Knaup beleuchten Leben und Ängste von Parlamentariern. Nicht immer steht dabei die tägliche Arbeit im Vordergrund.

Von Rudolf Walther

Der Satz, "Ich bin ein Alleiner", stammt von Franz Müntefering (SPD), der den politischen Betrieb so gut kennt wie wenige. Die beiden Journalisten Peter Dausend und Horand Knaup fanden im Berliner Politikbetrieb 50 Abgeordnete quer durch Fraktionen und Altersgruppen und führten mit ihnen vertrauliche Gespräche über das Innenleben und die Funktionsweisen des politischen Betriebs, das Alleinsein der Abgeordneten und deren Ängste. Außer mit Abgeordneten sprachen sie mit persönlichen Mitarbeitern der Parlamentarier, mit Pressesprechern, Lobbyisten, NGO-Leuten, Psychotherapeuten, Beratern und Angehörigen von Politikern. Aus Zitaten und Aussagen dieser bunten Gesprächspartnergruppe montierten die beiden Autoren ein perspektivenreiches Tableau, das in seinen dichtesten Passagen einen ebenso aufschlussreichen wie nüchternen Blick auf die Mechanismen der Politik bietet. Inhaltlich verbürgen sich die beiden Autoren für die Authentizität, auch wenn die Vertraulichkeit der Gespräche oft keine personenbezogene Zuordnung von Aussagen und Zitaten zulässt.

Keinerlei Konzessionen machen die Autoren an das in den Medien und an Stammtischen gleichermaßen beliebte Politiker-Bashing. Im Gegenteil - sie warten mit Beschreibungen der Einsamkeit des Abgeordnetendaseins auf und vermitteln über weite Strecken politische Aufklärung im besten Sinne, weil sie massenweise Halbwissen und Vorurteile über Abgeordneten-Diäten, Übergangsgelder und andere "Privilegien" abräumen. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Hintze gab Parlamentsneulingen den Rat: "Sie haben zwei Möglichkeiten - entweder Sie lassen sich auf die Irrenliste der Bild-Zeitung setzen, dann kriegen Sie immer einen Anruf, wenn die was brauchen. (. . .) Oder Sie suchen sich ein Fachgebiet, arbeiten sich richtig gut ein, sodass es heißt: Die Neue da, die kann was. Wenn Sie den Respekt Ihrer Kollegen verdienen wollen, rate ich dringend zu Letzterem." Anhand vieler Beispiele und Zitate können die beiden Autoren bündig nachweisen, dass Hintzes Rat edel gemeint war, aber nicht so ganz zu geschriebenen und vor allem ungeschriebenen Sitten und Gebräuchen im politischen Alltag passt: "Nur aufgrund seiner Fachkunde oder rhetorischen Befähigung hat im Bundestag noch niemand Karriere gemacht." Längst ist die "mediale Wahrnehmung" zur gängigsten Währung in der Politik geworden, und das gilt nicht nur für Personen mit herausgehobenen Funktionen im Betrieb, sondern auch für jeden einzelnen Abgeordneten. Ein paar Sekunden in der "Tagesschau" oder "Heute" gelten im Wahlkreis, in Partei, Fraktion und Ausschuss mindestens so viel und meistens mehr als handwerklich solide Vorarbeit für den Ausschuss oder im Wahlkreis.

Die nüchterne Bilanz der Autoren: Glaubwürdig und authentisch zu bleiben, zahlt sich nicht aus

Jeder Abgeordnete hat genau eine Stimme und jeder wurde "vom Volk" gewählt, aber eine Fraktion ist kein Verein von Gleichen und Gleichgesinnten, sondern ein sehr komplexes Gebilde mit einer formal beschreibbaren, aber in der Praxis fast unberechenbar funktionierenden, hierarchischen "Machtarchitektur" aus Vorsitzendem, Stellvertretern, parlamentarischen Geschäftsführern, Landesgruppenchefs, Ausschussvorsitzenden, Sprechern, Berichterstattern. Hoffnungslos verloren sind Neulinge, die sich nicht intensiv bemühen, sich in diesem Labyrinth zu orientieren. "Mit Kompetenz allein ist hier noch niemand was geworden", so die Autoren. Demut, Fingerspitzengefühl und im richtigen Zeitpunkt zu reden und vor allem zu schweigen sind ebenso gefragt, wenn jemand etwas werden will in dem von Machtspielen aller Art geprägten Organ.

Über den Abgeordneten hängt permanent das Damoklesschwert, nicht primär der zweifelsfrei demokratischen Wiederwahl am Wahltag, sondern der vorausgehenden Erringung und Sicherung des Vertrauens eines ziemlich zufällig zustande kommenden oder auch ferngesteuerten Gremiums aus Parteimitgliedern im Wahlkreis, die einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste durch Mehrheitsentscheidung vergeben oder verweigern können.

Besonders genau haben Dausend und Knaup die Parlamentskarrieren berühmter und weniger berühmter "Abweichler" von Ottmar Schreiner, Hermann Scheer und Oskar Lafontaine bis zu Sigrid Skarpelis-Sperk, Marco Bülow, Florian Pronold, Axel Berg und Cansel Kiziltepe beobachtet. Die Fälle liegen recht unterschiedlich, aber generell gilt: "Glaubwürdig und authentisch zu bleiben, zahlt sich nicht aus" - im Gegensatz zum Opportunismus etwa eines Wolfgang Clement, der sich zum "Büttel der großen Energiekonzerne" machen ließ und im Bundestag Texte aus der Presseabteilung des Energieunternehmens RWE verlas.

Zu den Schwächen des Buches zählt, dass es zu oft und zu energisch auf psychologische Befindlichkeiten der Akteure abhebt und deren "Eitelkeit, Gefallsucht, Selbstgefälligkeit und Narzissmus" mit küchenpsychologischen Ferndiagnosen verknüpft, die nicht weniger küchenpsychologisch und spekulativ werden, wenn sie mit Zitaten professioneller Psychologen unterlegt werden. In dieser Hinsicht wäre weniger mehr und hilfreicher gewesen. Zu selten halten sich die Autoren an ihre eigene, bessere Einsicht: "Die Recherche dazu ist schwierig. Literatur und empirisches Material dazu gibt es kaum" oder an die Weisheit von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), des erfahrensten deutschen Parlamentariers: "Wenn ich in den Spiegel gucke, sehe ich, dass ich ein alter Mann bin. Dass ist das Psychologischste, was mir durch den Kopf geht."

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Quelle:
SZ vom 28.09.2020
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