Am 12. Februar kommenden Jahres sollen die Berliner ein neues Abgeordnetenhaus wählen - zum zweiten Mal innerhalb von anderthalb Jahren. Die Verfassungsrichter des Landes hatten die Wahl vom September 2021 wegen jeder Menge Pannen für ungültig erklärt.
Es ist also eine ernste Angelegenheit, doch sie bringt allerhand Kurioses mit sich. So wird am Wahlsonntag auf Einladung von Berlins Innensenatorin voraussichtlich auch ein Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) zugegen sein. Es wäre das erste Mal, dass eine Wahl zum Abgeordnetenhaus allein derart genau geprüft wird.
Berlins Parlamentarier wiederum mussten vor rund sechs Wochen zur Sondersitzung antreten. Ein Tagesordnungsordnungspunkt war die Änderung des Berliner Straßengesetzes, bei der sich alle Fraktionen - von der Linken bis zur AfD - erstaunlich einig waren. Denn nach der bisherigen Regelung hätte der Plakatwahlkampf an Weihnachten begonnen - ausgerechnet. Um die Feiertagsruhe zu retten, wurde der Beginn der heißen Wahlkampfphase nun per Verordnung auf den 2. Januar verschoben.
Eine Linke kandidiert nun für die Grünen
Die parteiübergreifende Einigkeit und auch die Wahlprüfung sind nur zwei Beispiele einer ganzen Reihe von Eigentümlichkeiten, mit denen Berlins Politiker nun zu tun haben. "Das Wort 'kurios' kann man wirklich schon sagen", meint Gordon Lemm. Er scheiterte bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus im vergangenen September als Direktkandidat der SPD nur sehr knapp, wenig später wurde Lemm zum Bürgermeister des Berliner Bezirks Marzahn-Hellersdorf gewählt. Der Posten macht ihm Spaß, trotzdem muss er im Februar nun wieder als Direktkandidat antreten.
Denn: Die Wahl im Februar ist eine sogenannte Wiederholungswahl, für das Abgeordnetenhaus genauso wie für die zwölf Bezirksparlamente. Anders als bei Neuwahlen müssen die Parteien mit denselben Kandidaten antreten wie schon bei der Wahl zuvor. "Die Regelungen führen zu einer Konstellation, die man gar nicht will", sagt Lemm. "Man wählt zwar einen Vertreter der SPD aus dem Bezirk, man wählt aber nicht mich persönlich als Direktkandidaten." Denn bereits jetzt ist klar, dass er das Mandat im Fall eines Sieges nicht antreten wird; Lemm, 45, will Bezirksbürgermeister bleiben.
Nur weil Berlin eine Abstimmung verpfuscht, bleibt das Leben ja nicht stehen: Menschen werden Bürgermeister, sie ziehen um, sie sterben oder orientieren sich einfach nur neu.
So wie Ingrid Bertermann. Kaum zwei Monate nachdem sie für die Grünen in die Bezirksverordnetenversammlung Mitte gewählt worden war, wechselte sie zur Fraktion der Linken. Trotz erheblichen Drängens der Grünen will Bertermann bei der anstehenden Wiederholungswahl nicht auf eine Kandidatur verzichten.
"Das kann man niemandem außerhalb von Berlin-Mitte erklären", ärgert sich Lara Liese vom Vorstand der Grünen im Bezirk. Die Partei habe mit Bertermann gesprochen und auch alle juristischen Möglichkeiten geprüft: Die 58-jährige Linke darf auf dem aussichtsreichen Platz 17 der Grünen Liste antreten. "Das ist eine paradoxe Situation", sagt Liese. "Demokratietheoretisch ist das eigentlich nicht tragbar."
Neuland nicht nur für Berlin, sondern für ganz Deutschland
Eine Wiederholungswahl in dieser Dimension ist Neuland nicht nur für Berlin, sondern für ganz Deutschland. Zwar kam es in der Geschichte der Bundesrepublik immer mal zu Wiederholungswahlen, 2012 in Dortmund zum Beispiel oder 2015 im Kreis Geiselhöring in Niederbayern. Auf Landesebene musste bislang nur im Stadtstaat Bremen eine Wahl neu angesetzt werden, betroffen war gerade einmal ein Stimmbezirk.
Zu der "Herkulesaufgabe" - so bezeichnete Berlins Landeswahleiter Stephan Bröchler die Organisation der Wiederholungswahl kürzlich - gehört nun auch dazu, das Landeswahlgesetz neu zu interpretieren. Denn die Regelungen für den Fall der Wiederholungswahl sind dürftig.
Anfang Dezember veröffentlichte das Landeswahlamt eine Aufzählung von 25 Kandidaten, die von den Landeslisten der Parteien gestrichen worden waren. Der größte Teil ist seit der vergangenen Wahl verzogen, andere sind von ihren Ämtern zurückgetreten, ein Kandidat der Partei Die Basis ist verstorben. Diese Menschen wurden bereits von den Parteien durch neue Kandidaten ersetzt.
Im Fall der Direktkandidaten hat der Landeswahlleiter eine andere Regelung entwickelt: Lücken, die durch Umzug oder Tod gerissen werden, müssen durch Kandidaten ohne eigenes Direktwahlmandat von den Landeslisten ersetzt werden. Das klingt einfach, in der Praxis aber es wird für einige Politiker plötzlich ganz schön kompliziert.
Zum Beispiel für Bettina Jarasch. Die Grünenpolitikerin ist Senatorin für Umwelt und Verkehr in Berlin und schärfste Konkurrentin der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Schon bei der Wahl im September vergangenen Jahres wäre Jarasch fast Landeschefin geworden, nun tritt sie wieder als Spitzenkandidatin an.
Da sie aber 2021 ohne Direktmandat angetreten ist, muss sie nun eine der Lücken füllen: Im Berliner Bezirk Spandau ist einer der Direktkandidaten der Grünen verzogen; will Jarasch ihren Platz eins auf der Landesliste nicht verlieren, muss sie nach den Vorgaben der Wahlleitung dort einspringen.
Die Kandidatin kommt zum Wahlkreis "wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde"
Sie freue sich, in Spandau anzutreten, "auch wenn ich dazu komme wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kinde", sagte Jarasch. "Die Wiederholungswahl war für viele von uns eine Überraschung und bringt weitere Überraschungen." Denn es ist eine Kandidatur mit vielen Haken.
Dazu gehört, dass Jaraschs Vorgänger in dem Wahlkreis zuletzt gerade einmal 11,2 Prozent gewonnen hat. Spandau ist ein eher konservativer Bezirk am westlichen Rand der Stadt, weit weg vom Prenzlauer Berg und fest in der Hand von SPD und CDU. Und nicht nur das: Der Spitzenkandidat der CDU, Kai Wegner, tritt in dem Bezirk genauso an wie auch Raed Saleh, Fraktions- und Co-Parteivorsitzender der SPD Berlin.
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Saleh und Jarasch kämpfen nun sogar um denselben Wahlkreis - nur dass Saleh dort seit 2006 mehrmals das Direktmandat gewonnen hat. Dass der Wahlkreis nun zum großen Schauplatz dieser Abstimmung hochstilisiert wird, passt den Grünen gar nicht. "Es ist ein Duell mit sehr unterschiedlichen Waffen", sagt einer aus der Partei.
Ein ganz anderes Problem hat Alexander King von der Linken. Politik ist Macht auf Zeit, und mit etwas Pech wird der promovierte Geograf das schneller erfahren, als es ihm recht ist. Er ist seit ziemlich genau einem Jahr Parlamentarier im Berliner Abgeordnetenhaus, ein klassischer Nachrücker: Weil ein anderer Politiker seiner Partei kurz nach der Wahl auf sein Mandat verzichtete, kam King zum Zuge.
Der 53-Jährige hat die Chance genutzt, als energiepolitischer Sprecher hat er daran mitgearbeitet, Berlin winterfest zu machen; als Medienpolitiker hat er früh eine Aufarbeitung des Skandals in der Führung des Senders RBB gefordert. "Ich denke, die Wähler haben für ihre Stimme und für die Diäten gute Arbeit bekommen", meint King. "Wenn es jetzt bald wieder vorbei sein sollte, dann wäre das schade."
Die Gefahr besteht umso mehr, da der Linkenpolitiker Sebastian Scheel vom Rücktritt zurücktritt und plötzlich doch wieder kandidieren will. Von ihm hatte King das Mandat vor einem Jahr übernommen; nun rutscht er wieder einen Platz weiter runter auf der Landesliste der Linken. Ein Effekt der Wiederholungswahl sei eben auch, "dass Abgeordnete, die ihr Mandat zurückgegeben haben, nun doch wieder einziehen können", sagt King.