Süddeutsche Zeitung

Wahlpannen in Berlin:"Es ist ein großes Problem, wenn solche Fehler keinerlei Konsequenzen haben"

In Berlin gab es an manchen Orten zu wenige Wahlzettel, Wähler standen weit nach 18 Uhr noch an. Eine Rechtsprofessorin erklärt, warum das skandalös ist - aber folgenlos bleiben dürfte.

Interview von Ronen Steinke

Sophie Schönberger, 41, ist Professorin für öffentliches Recht und Ko-Direktorin des Instituts für Parteienrecht an der Universität Düsseldorf.

SZ: Frau Schönberger, in Berlin standen Leute teils noch lange nach 18 Uhr in der Schlange vor dem Wahllokal. Ist das ein rechtliches Problem?

Sophie Schönberger: Das ist erst mal kein Problem, solange die Leute vor 18 Uhr da waren. Aber irgendwann kippt die Frage, wie lange ich als Wahlberechtigte warten muss, um meine Stimme abgeben zu dürfen, hin zu einer regelrechten Behinderung meines Wahlrechts. Das ist ein Organisationsverschulden der Veranstalter.

Mancherorts gab es nicht genügend Wahlzettel für die Wahlberechtigten.

Das ist ein grobes Organisationsversagen der Landeswahlleitung. Auch hier kommen wir in einen Bereich, wo Wahlfehler stattgefunden haben, die skandalös sind. Trotzdem werden sie im Ergebnis wohl keine Konsequenz haben.

Nein?

Nein, weil man letztlich nicht wird beweisen können, dass sich diese Fehler aufs Ergebnis der Wahl, also die Verteilung von Mandaten, ausgewirkt haben. Das ist entscheidend für die Frage, ob man eine Wahl anfechten kann. Unser Wahlprüfungsrecht ist sehr auf die Stabilität der Parlamente ausgelegt. Eine Nachwahl findet nur statt, wenn man darlegen kann, dass die Parlamentssitze falsch verteilt wurden. Im Endeffekt werden es in Berlin wahrscheinlich so wenige Stimmen sein, dass man immer sagen kann: Die paar Stimmen hätten nicht den Ausschlag gegeben.

Sendet man damit nicht die Botschaft aus: Die Stimme des Einzelnen zählt nicht?

Es ist ein großes Problem, wenn solche Fehler, wie sie in Berlin massiv aufgetreten sind, keinerlei Konsequenzen haben. Das kann das Vertrauen in die Integrität der Wahl tatsächlich trüben. Es gibt ja schon in Teilen der Bevölkerung Entwicklungen in die Richtung, etwa bei der AfD.

Wenn eine Behinderung der Wahl ohne Konsequenz bleibt, öffnet das nicht auch Tür und Tor für die Verantwortlichen, so etwas absichtlich zuzulassen?

Das ist tatsächlich ein Problem unseres Wahlrechts. Es ist darauf angelegt, dass alles gut funktioniert. Es geht davon aus, dass die Behörden und die ehrenamtlichen Wahlhelfer erst mal alle gut arbeiten - und es schützt das Wahlergebnis dann quasi vor nörgelnden Bürgerinnen und Bürgern. Wenn es strukturelle Probleme gibt oder sogar Manipulationen, kommt man in Bereiche, wo das Wahlrecht kaum Abhilfe bietet.

Was wäre der Rechtsweg für Bürgerinnen und Bürger, die sich beschweren möchten, weil sie zu lange in der Schlange stehen mussten oder sogar vom Wahllokal abgewiesen wurden, weil keine Wahlzettel mehr da seien?

Erst mal ein formloser Brief ans Berliner Abgeordnetenhaus: "Ich lege Wahlprüfungsbeschwerde ein ..." Danach als zweiter Schritt: Klage vor dem Berliner Verfassungsgericht.

Mit dem Ziel, dass die Wahl wiederholt wird?

Ja, punktuell an den Orten, an denen Fehler aufgetreten sind. Aber das zu erreichen wird, wie ich die Lage sehe, sehr schwierig.

Manche Wählerinnen und Wähler berichteten, Wahlhelfer hätten zu ihnen gesagt: Sie dürfen in der Schlange vor, wenn Sie auf Ihre Zweitstimme auf Landesebene verzichten.

Das zeigt, dass die ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer überfordert waren in so einer Krisensituation. Die machen das nicht hauptamtlich, sind mit so einer Situation nicht vertraut. Das geht natürlich nicht.

Wenn Sie das Wahlprüfungsrecht als so zahnlos beschreiben, bräuchte es bessere Regeln?

Das Wahlprüfungsrecht ist dringend reformbedürftig, um das Vertrauen in die Wahlen besser zu schützen. Bislang haben Verstöße kaum Konsequenzen.

In manchen Bundesländern gab es Wahlurnen, die draußen unter freiem Himmel aufgestellt wurden, um Maskenverweigerern entgegenzukommen.

Da spricht nichts dagegen. Wenn die Integrität und Geheimhaltung der Wahl gesichert ist, kann man das auch draußen machen. Man braucht dafür halt mehr Personal. Die Leute muss der Staat erst mal zusammenbekommen.

Jahrelang haben Menschen mit Behinderung beklagt, dass Wahllokale nicht barrierefrei waren, aber nie wurden Urnen nach draußen gestellt.

Es ist natürlich immer ein Aufwand. Das Wetter muss mitspielen, und so weiter. Aber auf die Belange von Menschen mit Behinderung ist in der Vergangenheit auch nicht unbedingt ein großer Schwerpunkt gelegt worden.

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SZ/hum
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