Chaos bei der Bundestagswahl:Einsprüche gegen Wahl in Berlin brechen jeden Rekord

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Lange Schlangen am 26. September in Berlin-Friedrichshain - und nicht nur da. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Jeder zweite der 1700 Einsprüche beim Bundeswahlleiter hat mit Berlin zu tun. Welche Konsequenzen hat das?

Von Jan Heidtmann, Berlin

Zwei Monate lang konnten die Menschen gegen die Wahl in Berlin Einspruch einlegen, an diesem Freitag endet die Einspruchsfrist für die Wahl zum Bundestag. Gemessen an der schieren Zahl der Einwendungen müssen die Abstimmungen am letzten Sonntag im September ein Desaster gewesen sein: 1700 Einsprüche sind beim Bundeswahlleiter bis zum Donnerstag aufgelaufen, rund jeder zweite habe mit Berlin zu tun, heißt es dort. Das übertrifft selbst den Rekord zur Bundestagswahl 1994, bei der 1453 Wahleinsprüche erhoben wurden, hauptsächlich wegen der damaligen 16 Überhangmandate. In anderen Jahren schwankte es zwischen 80 und 275 Einwendungen, nur nach der Wahl 2002 waren es mehr als 500.

Zugleich endet an diesem Sonntag nach einem Monat auch die Möglichkeit, ganz amtlich gegen den Berliner Teil dieses Superwahltags im September zu protestieren: gegen die Wahl zum Abgeordnetenhaus, zu den Bezirksverordnetenversammlungen und gegen die Abstimmung zum Volksentscheid "Deutsche Wohnen & Co enteignen". 18 Einwendungen sind dazu beim Berliner Verfassungsgerichtshof bis Donnerstag eingegangen, bei der Wahl 2016 waren es gerade mal fünf.

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Die enorme Differenz der Einsprüche zur Bundestags- und Abgeordnetenhauswahl rührt von einem sehr unterschiedlichen Kreis der Berechtigten her: Während sich jeder Wähler offiziell über die Bundestagswahl beschweren kann, dürfen das bei der Abgeordnetenhauswahl in der Regel nur Behörden, Parteien oder die Kandidaten selbst. Kurz vor Ablauf der Fristen haben sich nun noch drei durchaus prominente Beschwerdeführer zu Wort gemeldet. Am vergangenen Freitag erhob Bundeswahlleiter Georg Thiel seinen Einspruch, am Montag drauf die stellvertretende Landeswahlleiterin von Berlin, Ulrike Rockmann, sowie Innensenator Andreas Geisel (SPD). Auch das ist sicherlich ein bislang einmaliger Vorgang.

Eine Reihe von Pannen begleitete die Wahlen in Berlin, die Stadt schien mit vier Abstimmungen und dem gleichzeitigen Berlin-Marathon vollkommen überfordert. In 200 der rund 2200 Wahllokale soll es zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein - eine Blamage, die weltweit Schlagzeilen machte und zum Rücktritt der Landeswahlleiterin führte.

Die Probleme: Wahlzettel, Schlangen, Öffnungszeiten

Bei ihren Einsprüchen zielen die beiden Wahlleiter und der Innensenator aber vor allem auf vier Vorkommnisse ab: Dass Stimmzettel falsch ausgegeben worden sind - oder gar nicht. Dass an einigen Wahllokalen die Warteschlangen extrem lang waren. Und dass deshalb die Öffnungszeiten teils bis weit nach 18 Uhr verlängert wurden. All diese Fälle hätten dazu führen können, dass Wähler nicht so abstimmen konnten, wie sie wollten, heißt es.

So ärgerlich diese Pannen für Einzelne sind, weder die Bundestags-, noch die Abgeordnetenhauswahl müssen wohl wiederholt werden. Denn die Hürde dafür liegt hoch, wesentlich ist, dass ein Wahlfehler sich spürbar auf das Wahlergebnis ausgewirkt haben muss. Im Fall der Wahl zum Abgeordnetenhaus könnte dazu zum Beispiel ein Wahlkreis in Berlin-Pankow zählen. Dort trennen den Direktkandidaten der Linken, Kultursenator Klaus Lederer, gerade einmal 30 Stimmen von der siegreichen Grünen Oda Hassepaß. Im Wahlkreis I Marzahn-Hellersdorf gewann der Direktkandidat der AfD wiederum mit nur 70 Stimmen vor dem Rivalen von der SPD.

Ähnlich knappe Ergebnisse gab es auch bei der Bundestagswahl in Berlin. So verlor der SPD-Direktkandidat Torsten Einstmann im Wahlkreis Reinickendorf gerade einmal mit 1,4 Prozent der Stimmen gegen die Spitzenkandidatin der CDU, Monika Grütters. In absoluten Zahlen sind das immerhin noch 1788 Stimmen, weshalb Einstmann selbst bei einer Neuwahl in dem Kreis wenig Chancen gegeben werden. Insgesamt führt der Bundeswahleiter sechs von zwölf Bundestagswahlkreisen als problematisch an, aber in den meisten Fällen geht es um Fehler, die keine Auswirkung auf das Wahlergebnis haben.

Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags muss die Einwendungen des Bundeswahleiters nun genau wie die anderen rund 1700 Einsprüche prüfen. Das Problem: Eben wegen der Wahl hat sich der Ausschuss noch nicht neu konstituiert. Über die Dauer der Prüfung mag man sich dort noch nicht äußern, in früheren Legislaturperioden verging schon häufiger ein gutes Jahr. Gegen das Ergebnis kann dann noch Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden.

Zehntausende Berliner müssen vielleicht noch einmal wählen

Wie bei der Abgeordnetenhauswahl gehen seriöse Experten auch bei der Bundestagswahl davon aus, dass das Gesamtergebnis Bestand haben wird. Möglicherweise muss die Abstimmung jedoch in dem einen oder anderen knappen Wahlkreis wiederholt werden. Davon könnten dann Zehntausende Berliner betroffen sein. Im Fall der Abgeordnetenhauswahl muss der Verfassungsgerichtshof darüber entscheiden. Damit wird nicht vor dem Frühjahr gerechnet, eventuelle Neuwahlen müssen dann innerhalb von 90 Tagen angesetzt werden.

Zu diesem Zeitpunkt wird auch das Ergebnis einer Expertenkommission erwartet, die der Senat im Dezember einsetzen wird. "Die Arbeit hat einen klaren Auftrag: Wir müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen", sagte Innensenator Geisel bei der Präsentation der Kommission am vergangenen Dienstag. "Es darf in unserem Land keinen Zweifel daran geben, dass eine Wahl ordnungsgemäß durchgeführt wird."

Ein zentrales Problem, das zu den Pannen am 26. September geführt habe, habe er bereits identifiziert: "Ich erwarte eine Änderung beim Durchgriffsrecht der Landeswahlleitung auf die Bezirkswahlleitungen", sagte Geisel. "Ich glaube, wir müssen da stringenter werden." Es ist der Klassiker unter Berlins Problemen. Mit dem schwierigen Verhältnis vom Senat und den Bezirken schlägt sich die Stadt herum, seit 1920 Groß-Berlin gegründet wurde.

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