Kurz vor der Wahl in Berlin hatte Landeswahlleiter Stephan Bröchler noch einmal zur Pressekonferenz eingeladen. Es ging um den "Endspurt", um "Ressourcen an Material und Personal" und um die "Herkulesaufgabe", vor der die Organisatoren stünden. Schloss man dabei kurz die Augen - es hätte auch der Konferenzraum der Nasa sein können, kurz vor dem Countdown. Fragen und Antworten zum kommenden Sonntag klangen so gewichtig, als ginge es um eine Mission zum Mars.
Es war dann doch nur der Raum A 2.04 der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, an der der Landeswahlleiter als Professor lehrt. Und die "Herkulesaufgabe", sie lautet letztendlich nur, eine Landtagswahl so zu organisieren, dass sich Berlin nicht komplett lächerlich macht. Dass also jede Stimme, die abgegeben wird, auch wirklich zählt. Ein eigentlich selbstverständlicher Vorgang, der durch das Versagen des Berliner Senats und der Verwaltung erst derart aufgeladen wurde.
Am 26. September 2021 sollten die Berliner über einen neuen Bundestag, über das Abgeordnetenhaus, die Bezirksparlamente und einen Volksentscheid abstimmen. Tatsächlich kam es dabei zu derart vielen Pannen, dass das Landesverfassungsgericht im November die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen für ungültig erklärte. Die Vorbereitung sei genauso mangelhaft gewesen wie die Umsetzung, erklärten die Richter. Wiedervorlage also an diesem Sonntag. Was mit dem Berliner Anteil an der Bundestagswahl geschieht, darüber muss noch das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Und, um die Angelegenheit endgültig kompliziert zu machen: Irgendwann im Frühjahr werden die Richter in Karlsruhe auch noch über die Wahl an diesem Sonntag entscheiden müssen. Einige Berliner Politiker hatten dagegen geklagt, weil sie eine vollständige Wiederholung für überzogen halten.

Die zentrale Frage jetzt so kurz vor der Wahl ist jedoch eine recht einfache: Warum soll diesmal etwas klappen, was zuvor so grandios gescheitert ist? Geradezu lustvoll deklarierten Berliner Medien in den vergangenen Wochen jeden noch so kleinen Fehler sogleich als "Panne". Tatsächlich, das erklärte Bröchler auch, handelte es sich um Fehler, die zwar ärgerlich sind, aber bei solchen Abstimmungen regelmäßig vorkämen. "Es gibt keine hundertprozentig reibungslosen Wahlen", sagte Bröchler. Er bevorzuge deshalb auch den Begriff "reibungsarm" statt "reibungslos". Entscheidend sei, dass am Ende jeder Bürger seine Stimme abgeben könne und diese dann auch gelte.
Um es gleich vorwegzunehmen: Es spricht alles dafür, dass es ein "reibungsarmer" Sonntag wird. Die Stadt hat nicht vier Abstimmungen und einen Berlin-Marathon zu bewältigen, sondern nur zwei Wahlen. Die Zahl der Wahlkabinen wurde verdoppelt; die prognostizierte Zeit, die ein Bürger braucht, um seine Stimme abzugeben, beträgt nun vier Minuten und nicht mehr drei. Im Herbst 2021 hatten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen gebildet, teilweise wurde bis weit nach 18 Uhr abgestimmt - auch, weil Stimmzettel fehlten. Diesmal sind davon mehr als genug vorhanden. Selbst wenn die nicht ausreichten, so Bröchler, gebe es jede Menge Nachschub. Zugleich stünden nun 42 000 frisch geschulte Helfer für die rund 2,5 Millionen Wahlberechtigten bereit, vorher waren es 34 000. Auch Bröchler selbst zählt zu den neuen Personalien. Der gewissenhafte Verwaltungswissenschaftler war im Herbst zum neuen Landeswahlleiter bestimmt worden. "Mein Zustand ist gut. Ich schlafe ausgezeichnet", sagte Bröchler nun. "Ein Stück weit nervös" sei er aber schon.
Um gleich ein Zeichen zu setzen, hatte Bröchler noch im Herbst internationale Beobachter zur Wiederholungswahl eingeladen. Die Vorbereitungen liefen dann offenbar so gut, dass zumindest die Beobachter der OSZE ihre Anwesenheit nach einem Kontrollbesuch für überflüssig erklärten. Sie hätten ein "hohes Maß an Vertrauen in die Fähigkeit" der Berliner Behörden, "diese Wiederholungswahlen tatsächlich durchzuführen", heißt es im Besuchsbericht.
Dafür wirft die Wahl selbst Fragen auf. Sie ist eine sogenannte Wiederholungswahl, auf Landesebene und in diesem Umfang bislang einmalig in der Bundesrepublik. Im Unterschied zu einer Neuwahl, bei der die Parteien die Kandidaten eben neu aufstellen, gelten bei der Wiederholungswahl die Kandidatenlisten der Wahl zuvor. Es beginnt auch keine neue Legislaturperiode, die alte wird nach der Wahl einfach fortgesetzt.
Da das Leben seit dem Herbst 2021 jedoch nicht stillstand, führen diese Regelungen zu einigen Merkwürdigkeiten. Insgesamt 25 Kandidaten mussten gestrichen werden; weil sie umgezogen, verstorben oder von ihren Ämtern zurückgetreten sind. Ansonsten aber gilt: Gesetzt ist gesetzt. In einem Fall hatte eine Kandidatin der Grünen ihre Partei verlassen und war zu der Linken gewechselt. Am Sonntag müssen sie die Grünen dennoch wieder auf ihrer Liste aufführen. Der Sozialdemokrat Gordon Lemm wiederum war im Herbst 2021 Direktkandidat seiner Partei, scheiterte und ist nun Bürgermeister des Bezirks Marzahn-Hellersdorf. Jetzt muss er wieder als Direktkandidat antreten, auch wenn klar ist, dass er Bürgermeister bleiben will. Das Direktmandat wird er nicht annehmen, sollte er es gewinnen.
Dies alles sind Einzelfälle und daher eher kurios als wirklich problematisch. Anders ist das bei den Wahlen zu den Bezirksparlamenten. Denn wer dort von den Abgeordneten zum Bürgermeister oder Stadtrat gewählt wird, ist Beamter auf Zeit. Er kann nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Bezirksparlaments abgewählt werden. Es braucht also schon gravierende Wählerwanderungen, um eine Bezirksführung vorzeitig abzusetzen. Beamtenrecht schlägt hier Wahlrecht.
Regelungen wie diese zählten jedoch zu den grundlegenden Problemen Berlins, erklärte Landeswahlleiter Bröchler. "Was wir 2021 erlebt haben, war kein Betriebsunfall oder Naturereignis, sondern das Ergebnis von strukturellen Fehlern." Die Wiederholungswahl erfolgreich zu organisieren, war so gesehen nur die Erstversorgung durch die neue Landeswahlleitung. Erst nach diesem Sonntag geht es um den herkulischen Anteil der Aufgabe: die Berliner Wahlorganisation so umzubauen, dass sich eine Pannenwahl wie 2021 tatsächlich nicht wiederholen kann.