Eine der Binsenweisheiten der Gegenwart ist, dass die Zeit in Fragen der drohenden Klimakatastrophe drängt. So war es auch nur konsequent, dass die Politik in den vergangenen Wochen beim Volksbegehren "Berlin 2030 klimaneutral" vor allem über Termine gestritten hat: Wann soll über dieses Thema abgestimmt werden - gemeinsam mit der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im Februar? Oder wird so aus der Wiederholungswahl die nächste Pannenwahl?
Inzwischen ist klar, dass die Berliner erst im März darüber entscheiden werden, ob die Vier-Millionen-Metropole ihren CO₂-Ausstoß bereits bis 2030 per Gesetz massiv reduzieren soll. Und nicht erst 2045 - so, wie es sich die Berliner Landesregierung selbst auferlegt hat.
Kaum diskutiert worden ist dabei jedoch die Kernfrage dieses Volksentscheids: Wäre es überhaupt realistisch, aus der Dreckschleuder Berlin innerhalb von sieben Jahren eine saubere Stadt zu machen? Das Vorhaben gleiche "dem Zehn-Jahres-Projekt zur Mondlandung in den 1960ern", sagen selbst die Aktivisten.
Bettina Jarasch ist Berlins Umwelt- und Verkehrssenatorin, als Grüne ist sie nicht nur von Amts wegen, sondern auch aus Überzeugung dafür, die Stadt so schnell wie möglich umzubauen. Zum Volksbegehren aber sagt sie: "Ich kann redlicherweise nicht für ein Gesetz plädieren, dass ich nicht umsetzen kann." Anders als dem Senat geht es den Aktivisten in ihrem Gesetzesvorschlag nicht nur um Klimaschutzziele, sondern um klare "Klimaschutzverpflichtungen".
Die Gesamtsumme der Kohlendioxid-Emissionen in Berlin müsse bis 2030 im Vergleich zum Ausstoß 1990 um mindestens 95 Prozent verringert werden, heißt es im Gesetzestext der Initiative. Sie freue sich über den zusätzlichen Druck, "den der Volksentscheid beim Klimaschutz macht", sagt Jarasch. Zugleich kann sie viele Beispiele dafür anführen, weshalb sie meint, dass dies nicht funktionieren kann. Das beginne schon auf der Straße.
Nicht nur der politische Alltag hemmt
In einem gemeinsam mit Wissenschaftlern ausgearbeiteten Klima-Stadtplan wollen die Aktivisten den Ausstoß an CO₂ im Stadtverkehr bis 2030 auf 750 000 Tonnen im Jahr reduzieren. 2018 lag der noch bei vier Millionen Tonnen. Dafür fordern sie unter anderem, den öffentlichen Nahverkehr sowie Radwege auszubauen und die Zufahrt für Verbrenner zu beschränken.
"Selbst in unserer linken, progressiven Koalition ist fast alles, was schnell und effektiv den Autoverkehr reduzieren würde, nicht umsetzbar", sagt Jarasch über den Senat aus SPD, Grünen und der Linken. "Jeder Kiezblock, jede Tempo-30-Zone, Zero-Emission-Zone oder City-Maut - alles ist umstritten."
Doch es ist nicht nur der politische Alltag, der hemmt. Bei seiner kritischen Einschätzung zum Volksentscheid stützt sich der Berliner Senat auf eine Machbarkeitsstudie des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung. Die Autoren gehen davon aus, dass die Hauptstadt in den 2040er-Jahren durchaus klimaneutral werden könne. "Eine deutlich frühere Zielerreichung ist dagegen unwahrscheinlich."
Die Wissenschaftler führen eine Reihe praktischer Gründe dafür an. So brauche es allein für die energetische Sanierung der öffentlichen Gebäude jede Menge speziell ausgebildeter Handwerker. Die fehlten in der Baubranche aber schon heute und seien nicht in so kurzer Zeit auszubilden.
Die Wirtschaftsforscher stellen auch andere Grundannahmen der Klimaschützer infrage: Berlin importiert rund die Hälfte der Energie, die die Bewohner verbrauchen. Das Szenario "Berlin 2030 klimaneutral" geht davon aus, dass diese Importe dann aus erneuerbaren Quellen gespeist werden. Doch ob das so sein wird, liegt bei der Bundesregierung oder auch beim Land Brandenburg, das die Stadt mit einigem Strom versorgt.
Als Vorbilder gelten Städte wie Tübingen oder Freiburg
Ähnlich optimistisch sind die Vorstellungen der Aktivisten bei der Nutzung von CO₂-neutral produziertem Wasserstoff. Die Initiative geht davon aus, dass 2030 weit über drei Millionen Megawattstunden davon gewonnen werden können. Bislang wird der Stoff in Deutschland jedoch nur in sehr geringem Umfang hergestellt. Die Autoren der vom Senat beauftragten Studie glauben deshalb, dass Wasserstoff "kurz- bis mittelfristig kein Gamechanger werden wird".

Wie ehrgeizig das Ziel der Aktivisten ist, zeigt auch ein Blick in den Rest der Republik. In Dutzenden Kommunen haben Stadt- oder Gemeinderäte beschlossen, bis zu einem bestimmten Jahr klimaneutral zu sein - von der Millionenstadt München bis zu Saerbeck in Nordrhein-Westfalen mit 7000 Einwohnern. Die Ambitionierten unter ihnen wollen es bis 2035 schaffen, andere bis 2040. Die Klimaschutzorganisation German Zero verweist auf mehr als 80 Gruppen, die in ihren Kommunen einen Klimaentscheid anstreben oder bereits umgesetzt haben.
Als Vorbilder gelten die Studentenstädte im Südwesten, Tübingen, Konstanz, Freiburg. Die Heidelberger Stadtwerke betreiben einen großen Aufwand, die Bürger zu beraten und die Wärmewende voranzubringen. Dennoch steht auch hier über allem die Frage: Ist das zu schaffen?
Für Wuppertal hat das dortige Institut für Klima, Umwelt und Energie untersucht, wie es der Stadt gelingen könnte, bis 2035 klimaneutral zu werden. So hat es die Stadtpolitik beschlossen, die Wissenschaftler beschreiben die Größe der Herausforderung: "Es handelt sich hier um ein extrem ambitioniertes Vorhaben, das in vielen Bereichen alle historischen Vorlagen sprengt." Gebäude müssten in einer Geschwindigkeit saniert werden, die kaum vorstellbar sei. Schon jetzt dürften keine Häuser, Straßen oder Fabriken mehr gebaut werden, die dauerhaft fossile Energien benötigen. Straßen und Schienen müssten umgebaut, Industrieprozesse umgestellt werden. Auch Konsummuster und Lebensstile stünden auf dem Prüfstand.

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Selbst für das weniger ehrgeizige Ziel, 2045 klimaneutral zu sein, empfiehlt die Berliner Studie dem Senat, das Ordnungsrecht einzusetzen: "Um den Akteuren für die teilweise mittelfristig anstehenden Veränderungen Orientierung und Richtungssicherheit zu geben." Anders gesagt, müssen schlicht Verbote her, um die Klimawende hinzubekommen. Autos mit Verbrennermotoren müssen genau so aus der Stadt verbannt werden wie Öl- oder Gasheizungen.
In Berlin geschieht schon einiges für den Umbau zur klimaneutralen Stadt
Die Initiatoren des Volksbegehrens "Berlin 2030 klimaneutral" halten trotz dieser Bedenken an ihrem Vorhaben fest. "Es sind extrem hohe Hürden", meint Stefan Zimmer zwar. "Ich würde Frau Jarasch recht geben, dass es bei der realpolitischen Situation jetzt sehr, sehr schwer wird." Denn nach wie vor fehle der Wille für einen radikalen Umbau - in der Landespolitik genau so, wie bei vielen Berlinern. "Dort ist die Dramatik der Lage noch nicht klar."
Doch die technischen Möglichkeiten für einen schnellen Umbau stünden bereit, sagt Zimmer. "Der Sinn des Volksentscheids ist, den Senat dazu zu bringen, alles in seiner Macht Stehende zu tun. Das macht der Senat derzeit nicht." Vorbild der Aktivisten ist unter anderem Großbritannien im Zweiten Weltkrieg. Um dem Angriff der Deutschen zu trotzen, hatte die Regierung das Land binnen kürzester Zeit auf Kriegswirtschaft umgestellt. Solch ein Umbau sei also möglich, meint Zimmer. Der Druck müsse nur hoch genug sein.
Tatsächlich geschieht in Berlin bereits einiges, um die Stadt klimaneutral umzubauen. Seit 2017 wird keine Braunkohle mehr zu Strom verbrannt, bis 2030 soll die gesamte Busflotte in der Stadt auf E-Antrieb umgestellt sein; von kommendem Jahr an braucht jedes neu gebaute Haus eine Solaranlage auf dem Dach. Wer sich aber ein Bild davon machen will, wie ein klimaneutrales Berlin aussehen könnte, der fährt am besten nach Lichtenberg. Dort steht in 64 Metern Höhe Ulrich Schiller auf dem Dach eines Hochhauses und sagt: "Das ist keine Immobilie, das ist ein Statement."
Schiller ist Geschäftsführer der Howoge, einer der größten städtischen Wohnungsbaugesellschaften, und die "Liese", der Lichtenberger Riese, wurde eben erst fertiggestellt. 394 Wohnungen auf kleinster Grundfläche, höchste Energieeffizienz und ein Spielplatz mitsamt Kletterwand auf dem Dach. Doch von dem Clou des Gebäudes sind bislang nur die Betonfundamente zu sehen: An jeder Ecke des Hauses sollen demnächst Windräder errichtet werden. Zusammen mit den Solarpanelen könnte das Haus dann ein Viertel der notwendigen Energie selbst erzeugen. Eine Kombination aus Wohnen und Energieerzeugung, die einmalig sei, meint Schiller. "Das ist Neuland."
Vom Dach aus hat man einen guten Blick auf all die anderen Hochhäuser in Lichtenberg, die der Wohnungsbaugesellschaft gehören. "Howoge-Land", wie Schiller es nennt. Auf jedem dieser Dächer könnten vermutlich kleinere Windräder installiert werden. "Das Potenzial bei bestehenden Dachflächen ist riesig", sagt Schiller. "Berlin kann in so einem Projekt seinen ganz eigenen Weg entwickeln", hin zur Klimaneutralität.
Doch bis dahin muss die Stadt erst einmal die vier Windräder auf dem Dach der "Liese" genehmigen. Berlins Bausenator habe gesagt, das sei "nur noch eine Frage der Zeit".