Berlin:Schwieriger Weg in die Freiheit

Der Senat will auch Häftlingen in Sicherungsverwahrung offenen Vollzug ermöglichen. Die Nachbarn sind besorgt.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Justizsenator Dirk Behrendt

Berlins Senator für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, Dirk Behrendt (Grüne), kümmerte sich schon als Abgeordneter um die Belange von älteren Gefangenen.

(Foto: Maurizio Gambarini/dpa)

Die Besuchsregelungen in der Justizvollzugsanstalt Tegel sind streng: Viermal im Monat dürfen die Insassen Verwandte oder Freunde sehen, pro Besuch sind höchstens 30 Minuten zulässig und nicht mehr als drei Erwachsene. So wirkte es an diesem Montagabend fast so, als hätte die JVA Tegel einen Tag der offenen Tür geplant: Fast 400 Einladungen hatte Anstaltsleiter Martin Riemer an die Anwohner in unmittelbarer Umgebung verschickt, um die 100 sind in den Kultursaal der JVA gekommen. Wobei der Kultursaal eher an eine Aula in einer sehr alten Schule erinnert, die Fenster sind vergittert. "Wir glauben nicht, dass wir Sie heute von unserem Vorhaben überzeugen können", sagt Riemer gleich zu Beginn.

Das Vorhaben, es sieht grob skizziert so aus: Bis zu zehn Sexual- und Gewaltstraftäter sollen von 2021 an in einem Haus außerhalb der Gefängnismauern untergebracht werden können. Dabei geht es nicht um einfache Insassen, sondern um Sicherungsverwahrte, also Menschen, die der Staat selbst nach Ablauf der Haftzeit nicht freilassen wollte. 48 von ihnen leben in der JVA Tegel, die verhängte Sicherungsverwahrung reicht von zwei bis 15 Jahren. Drei von ihnen kämen derzeit für das Programm infrage. "Uns ist bewusst, dass so ein offener Vollzug Befürchtungen hervorruft", sagt Riemer.

Das Mehrfamilienhaus aus der Kaiserzeit, in dem die Sicherheitsverwahrten untergebracht werden sollen, liegt direkt an der Gefängnismauer. Früher wohnten hier Gefängnisangestellte, jetzt leben in der einen Hälfte des Gebäudes mehrere Mieter, die andere soll von Anfang kommenden Jahres an umgebaut werden. Nach einem ersten Treffen mit den Hausbewohnern im April sollen nun auch ein Schallschutz zwischen beiden Haushälften, Türspione und Sichtblenden eingebaut werden. "Sie haben keine wilden Gartenpartys zu erwarten", erklärt Riemer. Die Häftlinge, die für den offenen Vollzug infrage kommen, seien meist schon älter und zudem häufig nicht bei bester Gesundheit. Ein Angestellter der JVA kontrolliere außerdem rund um die Uhr, wer wann das Haus verlässt.

Dass die Straftäter, die in dieses Programm kommen, mehrfach geprüft und begutachtet werden, ändert nur wenig an den Ängsten der Anwohner. Eine junge Frau, Mutter zweier Kinder, acht und 13 Jahre alt, fragt: "Muss ich mir da Sorgen machen, dass ihnen jemand auflauert?" Ein junger Mann sagt, "das ist, als würde man ein Kind vor einen Süßigkeitenladen setzen" und meint die Sexualstraftäter. Seine Tochter habe eine geistige Behinderung, "die geht doch mit jedem mit".

Mit dem offenen Vollzug will die Berliner Justiz eine Vorgabe erfüllen, die sich aus einem Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts ergibt: Demnach sollen Insassen aus der Sicherungsverwahrung, deren Entlassung absehbar ist, im offenen Vollzug auf das Leben jenseits des Gefängnisses vorbereitet werden. Viele von ihnen sitzen seit Jahrzehnten ein, sie haben oft keinerlei soziale Kontakte außerhalb der JVA. Das Urteil wurde vor acht Jahren gesprochen, Berlin ist nun offenbar das erste Bundesland, das die Forderungen aus Karlsruhe umsetzen will.

Doch das Projekt ist auch innerhalb der Berliner Koalition aus SPD, Linken und Grünen nicht unumstritten. So hält die SPD es zwar für richtig, den offenen Vollzug einzurichten, dies könne aber genauso gut auf dem Gelände der JVA geschehen. Berlins grüner Justizsenator Dirk Behrendt will jedoch daran festhalten. Schon als Abgeordneter kümmerte er sich um die Belange älterer Strafgefangener, seinen Vorgänger von der CDU piesackte er mit zahlreichen Kleinen Anfragen zu den Haftbedingungen. Als Senator trat Behrendt dann an, die Zustände in den Gefängnissen zu verbessern. Doch die Realität war eine andere: Die Gewerkschaft der JVA-Angestellten beschwerte sich darüber, dass der Strafvollzug nicht mehr "handlungsfähig und rechtssicher" sei. Hinzu kam, dass regelmäßig Häftlinge aus der JVA türmten, darunter auch ein Sicherheitsverwahrter auf Ausgang, ein verurteilter Vergewaltiger, der erst zwei Wochen später wieder festgesetzt werden konnte.

Das Vertrauen in die JVA Tegel hat das nicht gestärkt. So erläutert die Leiterin der Sicherungsverwahrung, Kerstin Becker, noch einmal ausführlich, dass sich die Insassen erst nach einem "langen und zähen" Prozess für den offenen Vollzug qualifizierten. "Jeder, der dort untergebracht wird, ist viele Jahre erprobt." Dazu gehöre, dass die Häftlinge über Jahre beim Ausgang begleitet oder beobachtet werden, dass sie bei jeder weiteren Erleichterung von externen Gutachtern eingeschätzt werden. "Aber natürlich können wir nicht in die Köpfe schauen", sagt Becker. Nur, entlassen würden die Leute eh irgendwann: "Je besser wir sie darauf vorbereiten, desto geringer ist die Gefahr, dass sie rückfällig werden."

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