Berlin:Merkel räumt am Breitscheidplatz Versäumnisse ein

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Ein goldener Riss im Gehweg symbolisiert die tiefe Wunde, die das Attentat am Berliner Breitscheidplatz im Leben der Betroffenen hinterlässt. Die Kanzlerin schlägt bei der Gedenkfeier selbstkritische Töne an.

Von Jens Schneider, Berlin

Wie ein Riss schlängelt sich der schmale, goldfarbene Streifen durch den Gehweg vor der Gedächtniskirche. Um ihn herum liegen an diesem nasskalten Vormittag weiße Rosen im Regen. Es ist still wie sonst nie hier. Die Polizei hat den Platz ringsum aus Sicherheitsgründen abgesperrt, den Ku'damm und die anderen Straßen stillgelegt. Von den Dächern ringsum bewachen Polizisten das Gedenken.

Der Riss im Gehweg teilt auch die sechs Stufen, die zur Kirche hinaufführen, zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes. In die Stufen sind zwölf Namen eingraviert, und die Länder, aus denen die Menschen kamen, die hier beim islamistischen Anschlag am 19. Dezember 2016 ermordet wurden - Israel, Italien, Polen, Tschechische Republik, Ukraine und Deutschland. Ihre Nächsten haben vor dem Gottesdienst Porträts von ihnen auf die Stufen zu den Namen gestellt, schöne, lebensfrohe Bilder. Die Angehörigen stehen links der Treppe, auch Überlebende des Anschlags, als Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller spricht.

"Bei Ihnen, den Überlebenden und den Familien und Freunden, die zurückgeblieben sind, haben sich tiefe körperliche, aber auch seelische Wunden eingegraben", sagt Müller. Er spricht über das Gedenkzeichen, den Riss im Gehweg, für den man sich unter Mitwirkung von Angehörigen entschied: "Ein Riss symbolisiert die Wunden, die der Anschlag geschlagen hat."

Berlin
:Die tiefe Wunde im Leben der Hinterbliebenen

Mit einem goldenen Riss im Boden erinnert ein Mahnmal an die Opfer des Terroranschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz.

Ein Symbol gegen Hass und Terror

Das Mahnmal solle aber auch ein Symbol setzen gegen Hass und Terror. "Zeigen wir diesen Terroristen gemeinsam, was uns stark macht, nämlich mit anderen in Frieden zusammenleben zu können und das Beste in uns zu bewahren. Das, was ihnen fehlt: Menschlichkeit und der Glaube an die Zukunft."

In den letzten zwölf Monaten ist der Name des Attentäters Anis Amri so bekannt geworden, dass schon beklagt wurde, er habe mit seinem Terror erreicht, was er wollte. An diesem Ort stehen allein die Opfer im Vordergrund, Menschen, die damals zufällig auf diesem Weihnachtsmarkt waren. Als Müller gesprochen hat, stellen sich Angehörige still zu den Namen an die Stufen. Sie stellen Kerzen ab, halten einander, wortlos, für einige Zeit.

Auch der Bundespräsident, Mitglieder der Bundesregierung und des Senats stellen nun Kerzen ab. Die Kanzlerin steht still vor den Stufen, ihre Hände umschließen ein Glas mit einer Kerze darin. Sie hat am Montagabend im Kanzleramt die Überlebenden und Angehörigen zum Gespräch empfangen. Dabei ist sie Berichten zufolge von Tisch zu Tisch gegangen, um Sorgen und auch Klagen der Menschen anzuhören, von denen sich viele arg allein gelassen gefühlt haben in den letzten Monaten. Vor zwei Wochen drückten die Familien der Opfer das in einem offenen Brief aus, sie klagten über Bürokratie und fehlende Anteilnahme auch der Kanzlerin.

Merkel ist es am Dienstag ein Anliegen, direkt nach der Gedenkfeier einige Worte dazu zu sagen, das ist ungewöhnlich. Sie kommt für ein Statement zu den Journalisten. "Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch des Willens, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen", sagt sie. Und berichtet von einem "sehr offenen, auch von Seiten der Menschen, die betroffen sind, sehr schonungslosen Gespräch". Sie spricht offen über Fehler. Das Gespräch am Vorabend habe gezeigt, "welche Schwächen unser Staat in so einer Situation auch gezeigt hat". Es solle im nächsten Jahr ein weiteres Treffen geben, kündigt sie an. Es werde um die Fragen gehen: "Was haben wir gelernt? Was werden wir in Zukunft anders machen?"

Steinmeier fragt, ob die Maßnahmen zur Terrorabwehr ausreichen

Bereits Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte kurz vorher in seiner Ansprache im Gottesdienst die Frage gestellt, ob die Maßnahmen zur Terrorabwehr ausreichen: "Tun wir wirklich alles, was wir in unserem demokratischen Rechtsstaat tun können und tun müssen, um Terroranschläge zu verhindern?" Er forderte mehr Mitgefühl mit den Angehörigen und sprach über Versäumnisse: "Zur Wahrheit gehört auch, dass manche Unterstützung spät kam und unbefriedigend blieb."

Und Steinmeier sprach davon, dass man sich nach dem Attentat schnell an Sätze klammerte, die wie ein Abwehrreflex klangen, "wie der allzu routinierte Versuch, den Schock zu unterdrücken, statt ihn auszuhalten, statt innezuhalten". Sätze wie: "Wir lassen uns nicht einschüchtern" und "Wir opfern unsere Freiheit nicht der Furcht. Wir leben weiter wie bisher, jetzt erst recht." Sie seien stark und richtig, aber so kurz nach dem Anschlag "klangen sie nicht mehr nur trotzig und selbstbewusst, sondern auch seltsam kühl und abgeklärt".

In einer anschließenden Gedenkstunde im Berliner Abgeordnetenhaus setzte auch Berlins Regierungschef ein deutliches Zeichen, sprach von Fehlern und Versäumnissen, auch jenen im Umgang mit dem Attentäter Amri, der vor der Tat zwar aufgefallen war, aber unbehelligt blieb. "Als Regierender Bürgermeister bitte ich Sie, die Angehörigen und Verletzten, für diese Fehler um Verzeihung", sagte Müller.

Rund um den abgesperrten Breitscheidplatz versammelten sich schon am Vormittag Berliner und Touristen. Ab dem Nachmittag wurde zu einer Gedenkfeier geladen, viele Berliner standen mit Kerzen auf dem an diesem Tag geschlossenen Weihnachtsmarkt. Am Abend, um 20 Uhr zwei, läuteten die Glocken der Gedächtniskirche, zu diesem Zeitpunkt ereignete sich vor einem Jahr der Anschlag. Zwölf Minuten lang erinnerten sie an die Opfer.

© SZ vom 20.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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