Berlin:"Dies verstößt gegen den Grundsatz der freien Wahl"

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Der Verfassungsgerichtshof Berlin mit seiner Präsidentin Ludgera Selting (ganz links) tendiert dazu, die Pannenwahl vom September für ungültig zu erklären. (Foto: Annette Riedl/dpa)

Noch vor der letzten Anhörung verkündet der Berliner Verfassungsgerichtshof, dass die Pannenwahl vom September vermutlich wiederholt werden muss. Und liefert bereits eine detaillierte Begründung dafür.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Die beruhigende Nachricht vielleicht zuerst: Das vergangene Jahr in der Berliner Politik muss nicht rückabgewickelt werden. Was Abgeordnetenhaus und Senat seit vergangenem Dezember entschieden, beschlossen und umgesetzt haben, habe Bestand, betonte die Präsidentin des Berliner Verfassungsgerichtshofes. Diese Erklärung war auch notwendig. Denn zuvor hatte Ludgera Selting recht ausführlich begründet, weshalb das Gericht die vergangenen Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksparlamenten vermutlich für ungültig erklären wird.

An diesem Mittwoch wurde zum ersten Mal über die in Berlin chaotisch verlaufenen Wahlen vom 26. September 2021 zu Gericht gesessen. Die Bundestagswahl, die am selben Tag stattfand, wird in einem gesonderten Verfahren untersucht. Wegen des großen Andrangs hatte der Berliner Verfassungsgerichtshof in einen Hörsaal der Freien Universität geladen. Etwa die Hälfte der 600 Plätze waren besetzt. "Eine vollständige Ungültigkeit der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und für die zwölf Bezirksverordnetenversammlungen kommt in Betracht", verkündete Präsidentin Selting zu Beginn die "vorläufige Rechtsauffassung" des Gerichts. "Die Integrität des Wahlergebnisses ist durch schwere Wahlfehler beschädigt."

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Vorläufig sei die Einschätzung, da an diesem Tage noch vier Beschwerdeführer angehört werden sollten, die Einsprüche gegen die Wahl vorgebracht hatten. Insgesamt hat es 35 Einwendungen gegeben, darunter von der Landeswahlleiterin, der Senatsverwaltung für Inneres, der Parteien AfD und Die Partei. Diese vier stünden auch stellvertretend für die übrigen Einwendungen, hieß es. Selting betonte, dass das Plenum aus vier Richterinnen und fünf Richtern anschließend noch einmal beraten werde. Änderungen der vorläufigen Einschätzung "an der einen oder anderen Stelle" seien möglich.

Die Anhörung an diesem Mittwoch war der Endpunkt einer intensiven Untersuchung der Wahl in den Monaten zuvor. Schwerpunkt sei dabei die Prüfung der Niederschriften aus den 2256 Berliner Wahllokalen gewesen. Das Gericht sei nach der Lektüre überzeugt, "dass es zu einer Vielzahl von Wahlfehlern gekommen ist", sagte Selting. "Das Korrekturinteresse übersteigt das Bestandsinteresse", eine komplette Neuwahl sei notwendig. Die Vorgänge vor und bei der Stimmabgabe hätten den Grundsatz einer demokratischen Wahl verletzt: "Alle Wahlbeteiligten müssen die Möglichkeit haben, ihre Stimme unter zumutbaren Bedingungen abzugeben." Dies sei am 26. September 2021 nicht gelungen.

1066 Wahllokalen seien nach 18 Uhr offen gewesen, obwohl im TV bereits Hochrechnungen liefen

An jenem Sonntag wurden nicht nur das Abgeordnetenhaus und die Bezirksparlamente neu gewählt, sondern auch der Bundestag. Zugleich konnten die Berliner über einen Volksentscheid abstimmen; parallel dazu fand noch der Berlin-Marathon statt. Dies hatte in einer Vielzahl an Wahllokalen zu Wartezeiten von mehr als einer Stunde geführt. 1066 Wahllokale seien noch nach 18 Uhr geöffnet gewesen, um dem Andrang an Wählern gerecht zu werden, hat das Gericht ermittelt. Selting: "Dies verstößt gegen den Grundsatz der freien Wahl." Denn ab 18 Uhr hätten die Wahlberechtigten schon durch die ersten Hochrechnungen beeinflusst werden können.

Andere Wahllokale hätten zwischenzeitlich schließen müssen, weil die Stimmzettel ausgegangen seien. 83 Stunden sei das in allen Wahllokalen zusammen der Fall gewesen, zugleich sei es zu Wartezeiten von insgesamt mindestens 59 Stunden gekommen. Hinzu seien Fälle gekommen, in denen Kopien von Blanko-Stimmzetteln ausgegeben worden seien. Diese wertet das Gericht als ungültig, da sie nicht den notwendigen Standards entsprechen. "Die Wahlniederschriften enthalten Hinweise auf weitere Fälle", betonte Selting.

Fehler seien jedoch nicht nur am Wahltag selbst aufgetreten. Bereits "die unzureichende Vorbereitung stellt einen Wahlfehler dar". So seien trotz mehrerer Warnungen aus den Bezirken teils falsche Stimmzettel ausgeliefert worden, in anderen Fällen habe es schlicht an Wahlunterlagen gefehlt. "Die Landeswahlleitung ist ihren Kontrollpflichten nicht nachgekommen", mahnt Selting. "Das Gelingen war schon von Beginn an in Gefahr."

Dazu gehöre auch, dass die Zahl der Wahlkabinen viel zu niedrig angesetzt worden sei. Grund dafür seien die Quarantänemaßnahmen wegen der Corona-Pandemie gewesen, aber auch die Annahme, es werde viele Briefwähler geben. In einem Bezirk sei man von 80 Prozent Briefwählern ausgegangen. Über alle Wahllokale gerechnet, hätten die Wahlleitungen eine Stimmabgabe vor Ort von gerade einmal 40 Prozent der Wahlberechtigten ausgesetzt. Selting: "Das konnte nicht ausreichen."

Gericht: Das bisher Bekannte sei "nur die Spitze des Eisbergs"

Allein schon wegen des Umfangs und der schieren Anzahl der Unregelmäßigkeiten geht das Gericht davon aus, dass sie auch Einfluss auf das Wahlergebnis hatten. Dies ist eine der Voraussetzungen, um eine Neuwahl anzusetzen. Die Wahlfehler seien "flächendeckend" in allen 78 Wahlkreisen aufgetreten. Wegen des Wahlverfahrens und der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses genüge schon eine dreistellige Zahl an Stimmen, um dessen Gefüge zu verändern. Zudem sei das Gericht der Auffassung, dass die bislang bekannte Zahl an Stimmen, die mit Wahlfehlern behaftet ist, "nur die Spitze des Eisbergs" sei, sagte Selting. Und "niemand wird herausfinden können, wie viele Stimmberechtigte ihre Stimme nicht abgeben konnten." Das Gericht hat nun drei Monate Zeit, um ein endgültiges Urteil zu sprechen.

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