Mein Leben in Deutschland:Als wäre ich in der Nachbarschaft aufgewachsen

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Vom Kudamm über den Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor - Yahya Alaous kennt sich inzwischen gut aus in Berlin. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Auf sieben Jahren in Berlin schaut unser syrischer Kolumnist inzwischen zurück - mit intensiven Erfahrungen in einer Gesellschaft, die für ihn zuerst nur schwer zu verstehen war.

Von Yahya Alaous, Berlin

Seit meiner Ankunft in Deutschland und meinem ersten Artikel hier in der SZ sind bis heute sieben Jahre vergangen. Ich wusste nicht, dass ich all die Jahre weiter für die SZ schreiben würde, ich wusste nicht, ob wir in Deutschland bleiben würden, doch mittlerweile sind es in diesen sieben Jahren Dutzende Geschichten und Erfahrungen geworden, die ich an dieser Stelle mit Ihnen teile. Einige davon betrafen mein eigenes Leben, andere die Menschen um mich herum.

Das regelmäßige Schreiben für deutschen Medien stellt eine große Herausforderung dar. Es ist nicht einfach, für alle Leserinnen und Leser interessante Ideen zu finden. Vor allem anfangs war es nicht einfach, ein ganz neues und unbekanntes Publikum anzusprechen. Für uns im syrischen Kulturraum war die deutsche Kultur, im Gegensatz zur französischen zum Beispiel, nicht vorhanden. Die deutsche Gesellschaft war kein offenes Buch für mich, sondern eine neue Gesellschaft mit eigenen Codes und Regeln und zunächst schwer zu verstehen.

Es war daher nicht möglich weiterzuschreiben, ohne zu versuchen, die Verhältnisse und das Leben hier zu begreifen. In Berlin habe ich in den vergangenen Jahren viel Zeit damit verbracht, die Kieze zu entdecken. Ich fing am Kudamm an, erforschte den Alexanderplatz, dann das Zentrum der Stadt mit dem Brandenburger Tor, lernte die Geschichte der Quadriga darauf kennen, und viele weitere mit Berlin verwobene Geschichten.

Empfehlungen wie von einem Einheimischen

Bald bekam ich ein Gespür für die verschiedenen Kieze, als wäre ich in ihnen aufgewachsen. Nun kann ich meinen Freunden, die nach Berlin kommen, Empfehlungen wie ein Einheimischer aussprechen. In Kreuzberg empfand ich Freude, als ein deutscher Mann, offensichtlicher Nicht-Berliner, mich nach dem Weg zum Berliner Hauptbahnhof fragte.

Ich schätze es sehr, beim Besuch der prächtigen Gemäldegalerien in der Oranienburger Straße die neuesten Exponate anzuschauen. Das Beobachten von Bauprojekten wird für mich zu einer wahren Freude, immer, wenn plötzlich gigantische Bauwerke in der Stadt auftauchen, um das Wohnungsproblem zu lösen.

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Ich traf Hunderte Menschen mit verschiedenen Hintergründen und aus vielen Kulturen, Deutsche und Migranten, Obdachlose, Homosexuelle, bis auf die Knochen liberale und andere, nationalistische Menschen, Gläubige und Atheisten, ich befasste mich mit Intellektuellen und Schriftstellern, ich ging an den Sexarbeiterinnen an der Potsdamer Straße vorbei und durch die Gruppen von Drogendealern am Kottbusser Tor. Ich wollte die Stadt genau erkunden, da ich ihre Identität ergründen wollte.

In diesen sieben Jahren habe ich mit meinen Töchtern siebenmal zu Weihnachten auf den Schnee gewartet. In der Hoffnung, dass wir ein deutsches Postkarten-Weihnachten erleben werden. Das ist in den letzten sieben Jahren meistens nicht passiert. Doch die einfachen Geschenke, die Hortz und Helka, unsere alten Nachbarn, den kleinen Mädchen an Heiligabend brachten, waren genug, um sie vor Freude zum Schreien zu bringen und den nicht vorhandenen Schnee vorübergehend zu vergessen.

Wir bekamen unsere dritte Tochter und wir wählten einen schönen Namen für sie: "Yana", ein Name, der gleichzeitig deutsch und syrisch sein könnte. Wir erhielten eine schöne Geburtsurkunde, auf der der Geburtsort vermerkt ist. Sicherlich werden die drei Mädchen, zwei von ihnen in Damaskus geboren, wie so viele andere Syrer im Exil diskutieren, was besser ist: Ein "Original" per Geburt zu sein oder als Teil der "Moderne", so wie mittlerweile Hunderttausende kleine Syrerinnen und Syrer, in der Fremde geboren?

Ich habe vielen Frauen an den Bahnhöfen geholfen, die Wagen ihrer Kinder zu tragen, und vielen älteren Menschen, die Straße zu überqueren oder aus den Bussen auszusteigen, und ich habe gelernt, die Kinder meiner deutschen Freunde einfach anzulächeln, ohne sie zu tragen und hoch in die Luft zu werfen, wie ich es in Syrien zu tun pflegte. Ich habe gelernt, nicht wütend zu sein, wenn ältere Menschen sich sehr lange mit einem Bankangestellten unterhalten, ohne sich um die große Schlange von Menschen zu kümmern, die manchmal in der Kälte warten, bis sie an der Reihe sind.

Gelernt, an sonnigen Tagen einen Regenschirm mitzunehmen

Ich gebe zu, dass die Wartemusik, die die öffentlichen Ämter am Telefon auflegen, bei mir immer noch zu hohem Blutdruck führt, genau wie bei vielen von Ihnen, aber sobald ich die Stimme der Angestellten höre, die nach einer langen Wartezeit zu mir sagt: "Danke für Ihre Geduld, was kann ich für Sie tun?", dann vergesse ich alles und denke, sie hat eine bessere Stimme als Céline Dion.

Es stört mich nicht mehr, dass mein deutscher Nachbar im vierten Stock darauf besteht, mich so zu behandeln, als käme ich aus der Türkei, obwohl ich ihm wiederholt gesagt habe, dass ich aus Syrien komme! Vor allem stört es mich nicht mehr, dass er immer meinen Namen vergisst, obwohl ich alle seine Pakete in meiner Wohnung aufbewahre, bis er von seiner Arbeit zurückkommt.

Ich habe gelernt, an sonnigen Tagen einen Regenschirm mitzunehmen, wenn es unerwartet regnet, und beim Radfahren die linke Hand auszustrecken, um links abzubiegen, auch wenn ich sicher bin, dass das nächste Auto hinter mir mehr als 100 Meter entfernt ist. Mein Gehör ist so gut geworden, dass ich Polizeiautos und Krankenwagen schon aus großer Entfernung höre und bereit bin, ihnen den Weg freizumachen, damit sie passieren können.

Ich habe gelernt, auf Zehenspitzen zu gehen, wenn ich spät nachts aus dem Haus eines Freundes gehe, um die alte Frau nicht zu stören, die fast in jedem Haus in dieser Stadt lebt - weil sie sich die Nummer der Polizei oft besser merkt als ihre eigene Telefonnummer. Und wenn mich jemand nach den besten Dingen fragt, die ich in Deutschland erlebt habe, zögere ich nicht zu sagen, dass es zweifellos das Weizenbier ist, das meiner Meinung nach zu den ältesten deutschen Errungenschaften von Weltruhm gehört und unvergleichbar ist. Ich bezweifle sogar, dass die großen Industrien ohne die Weizenbierflaschen, die den Geist der Eigentümer dieser Industrien zu Innovationen anregten, nicht gediehen wären.

Ich habe viele wunderbare E-Mails mit sehr netten Worten erhalten, und ich habe Dutzende Studenten und Journalisten getroffen, die mir sagten, dass sie das meiste von dem, was ich geschrieben habe, gelesen haben und dies auch weiterhin tun werden.

Manchmal denke ich, dass ich für den Rest meines Lebens in Berlin bleiben werde, aber gleichzeitig wünsche ich mir, dass ich morgen nach Damaskus zurückkehren kann, und so bemühe ich mich, den Ansturm der neuen Erinnerungen zu stoppen, damit sie die alten nicht ersetzen. Ich denke weiter an Damaskus, als hätte ich es nie verlassen, und ich schreibe weiter über Berlin, als wäre ich in diesem Viertel aufgewachsen.

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