Berlin 2013:Die Rollenkoffer der Republik

Sie glauben, dass jetzt mal neue Leute an die Regierung müssen? Sie glauben, dass sich dann etwas ändert? Da müssen wir Sie enttäuschen.

Von Kurt Kister

Berlin im Sommer ist etwas klebriger als München, aber trotzdem ganz nett.

Berlin 2013: Leerer Plenarsaal des Bundestags.

Leerer Plenarsaal des Bundestags.

(Foto: Foto: Reuters)

Wenn in München die Sonne scheint, setzt man sich in einen Arkadenitaliener und wird mit "Buon giorno, Dottore" begrüßt. Dann schaut man sich um und sieht lauter Menschen, die man nicht kennt und auch nicht kennen will. Die meisten von ihnen sehen so aus, als hätten sie gerade Mittagspause und zwar eine kurze. Sie essen schnell und machen sich dabei ungeheuer wichtig.

Wenn sie allein sind, lesen sie Zeitung beim Essen. Sind sie nicht allein, lachen sie viel und meistens zu laut. Die Männer unter ihnen bekleckern manchmal ihre immer italienischen Krawatten mit Tomatensauce, was aber wenig ausmacht, weil das in München so normal ist wie einen Z 4 zu fahren, der nur zwischen März und Oktober zugelassen wird.

In Berlin sieht man nicht so viele Z 4. Da sitzen die dottori im "Café Einstein" Unter den Linden. Der Geschäftsführer Dieter Wollstein begrüßt sie mit Handschlag, und wenn sie mehr als drei Mal da waren auch mit Namen. Man muss nicht italienisch radebrechen im "Einstein", ist aber andererseits auch nichts wert, wenn man nicht mindestens einmal in der Woche dort mit jemandem zusammensitzt, den alle aus dem Fernsehen kennen.

Am meisten wert ist man im "Einstein", zumindest bei den Touristen, wenn man mit drei Leibwächtern kommt oder sich wenigstens mit jemandem trifft, der drei Leibwächter hat.

Im Vergleich zu Berlin gibt es in München kaum Leute mit Leibwächtern. Auch in dieser Hinsicht ist München ziemlich tot.

Außer den Leibwächtern sieht man im "Einstein" auch viele Rollenkoffer. Das heißt, im "Einstein" selbst nicht, aber vom "Einstein" aus. Gegenüber vom "Einstein" nämlich liegt ein Gebäude, das Teile der SPD-Fraktion beherbergt. Am Freitag letzter Woche bot sich da wieder einmal jenes Schauspiel, das regelmäßig, ähnlich wie die Landshuter Fürstenhochzeit, nur wesentlich häufiger, stattfindet. Genauer gesagt: Es findet an jedem Freitagmittag jeder Sitzungswoche statt.

Aus den Glastüren der Fraktionsmaschine strömen Menschen, die dunkle Rollenkoffer hinter sich herziehen und auf einen Mercedes oder BMW der Bundestagsfahrbereitschaft zustreben. Das sind SPD-Abgeordnete auf dem Weg zum Flughafen und dann in ihren Wahlkreis, wie bei Abgeordneten das Zuhause genannt wird. Unter ihnen sind überproportional viele Männer mit zu bunten Krawatten und viele Frauen jenseits der fünfzig, die so aussehen, als trügen sie einen Doppelnamen und seien ehrenamtlich bei der Arbeiterwohlfahrt engagiert.

Die Rollenkoffer der Republik

Ich bin zwar froh, dass ich nicht an der Universität arbeite. Wäre ich aber Professor, würde ich einen Studenten mit einer Promotion zum Thema "Phänotypen des Parlamentarismus" betrauen. Der müsste dann, empirisch belegt, Dinge erklären, die mir in langer Beobachtung aufgefallen sind: Warum tragen Gesundheitspolitikerinnen fast immer Hemdblusen? Wieso sehen die männlichen Nachwuchstalente bei der CDU so aus, als hätten sie keinerlei Bartwuchs? Und, vor allem: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen der politischen Orientierung einerseits und Farbe, Form sowie den Außentaschen des jeweiligen Rollenkoffers andererseits?

Am Freitag letzter Woche jedenfalls saß ich im "Einstein" und beobachtete den Auszug der politischen Klasse aus der Stadt. Na ja, es war nicht die ganze politische Klasse. Aber immerhin setzten sich die SPD-Rollenkoffer sozusagen als partes pro toto ab. Nur noch einmal kommen sie wieder und zwar, um am 7. September, so der Bundespräsident und das Verfassungsgericht es wollen, der letzten Sitzung der 15. Legislaturperiode des Bundestages beizuwohnen. Elf Tage später ist dann Bundestagswahl und wenn nicht passiert, was Zarah Leander schon 1942 vergeblich beschworen hat ("ich weiß, äs wirrrd einmal ein Wundärrr geschähn"), dann muss sich die Republik darüber einig werden, ob es Frau Bundeskanzler oder Frau Bundeskanzlerin heißt.

Angela Merkel wird danach zweifelsfrei stärker durch die Kanzlerschaft verändert werden, als Deutschland durch Merkels Kanzlerschaft verändert werden wird.

Joschka Fischer hat Merkel mit einem Soufflé verglichen, was uncharmant war, aber angesichts von Fischers eigener Körperbiografie doch des Nachdenkens wert ist. Ohnehin wird der Souffléfaktor, politisch und auch sonst, im nächsten Bundestag größer sein als heute. Sigmar Gabriel, Oskar Lafontaine, Guido Westerwelle, der mutmaßliche Hauptminister Stoiber und auch der Meister selbst, Joseph Fischer, können unheimlich schnell aufgehen, bald darauf aber wieder unter Zischen in sich zusammenfallen.

Wenn also die Cohiba - teurer Schein, der sich in Rauch auflöst - das Symbol der Ära Schröder war, könnte das Soufflé zum Leitsymbol der, fast möchte man es nicht hinschreiben, Ära Merkel werden.

Große Sorgen muss man sich in dieser Ära in jedem Fall um die Kunst der politischen Rede machen. Auch hier hat der Misstrauensfreitag böse Vorahnungen bestätigt. Man muss dafür gar nicht noch einmal Merkels eher hinterpommerische Ansprache, wie das Schröder einmal in einer Pressekonferenz unnachahmlich ausdrückte, "Revue kapitulieren lassen". Es reicht vielmehr, wenn man sich einen Satz aus der Rede von Merkels jungem Freund Westerwelle genauer betrachtet. Westerwelle bewertete an jenem historischen Freitag die Neuwahlen so: "Sie sind die einzige Chance, den gordischen Knoten, der Deutschland fesselt, zu durchschlagen."

Der gordische Knoten! Der Sage nach haben die Götter die Deichsel des Streitwagens des Königs Gordios von Phrygien mittels eines unlösbaren Knotens mit dem Zugjoch des Wagens verbunden. Demjenigen, der Deichsel und Joch trennen könnte, so hieß es, fiele die Herrschaft über Asien zu. Wie man weiß, hieb Alexander der Große den Knoten mit dem Schwert entzwei, eroberte Asien und starb daran. Der Knoten also hat nichts gefesselt, sondern etwas zusammengehalten und zwar etwas, was zusammen gehört, nämlich Deichsel und Joch.

Die Rollenkoffer der Republik

Das ist dem Westerwelle wurscht. Nehmen wir zu seinen Gunsten trotzdem an, Deutschland sei gefesselt. Da kommt einem Gulliver in den Sinn, den die Zwerge mit Stricken und Pflöcken auf der Erde liegend festhielten. Selbst im Märchen wird bei den wichtigen Details auf Stimmigkeit geachtet, weil sonst das Kind fragen würde: "Papi, wie können die denn den Gulliver mit einem einzigen Knoten fesseln?" Können sie nicht, mein Sohn, Zwerge, Elfen und erst recht normale Menschen brauchen dazu ganz viele Seile. Nur der Guido, der kann das mit einem Knoten. "Papi, warum kann das dieser Guido mit nur einem Knoten?" Weil dieser Guido lauter Dinge kann, die sonst keiner kann, mein Sohn, zum Beispiel kann er FDP-Chef sein.

Es ist also Unsinn, die von Westerwelle als Zustand der Lähmung empfundene Situation Deutschlands mit dem gordischen Knoten zu umschreiben. Noch größerer Unsinn ist es, die vorgezogene Bundestagswahl mit dem Schwert Alexanders zu vergleichen. Der Streich des Makedoniers nämlich war nichts anderes als die momentane, sehr dezisionistische Lösung eines Problems, das eigentlich darauf angelegt war, mit Verstand und Planung - und nicht mit Gewalt - beseitigt zu werden. Zehn Jahre nach dem Knotenhieb starb Alexander in Babylon, dem selbst gewählten Zentrum eines Reichs, das er zwar erobert, aber nie beherrscht hatte. Wenn man so will, war der Hieb durch den Knoten der fulminante Beginn eines goldgepflasterten Weges zum Untergang.

Vielleicht war es also das, was Westerwelle uns sagen wollte: Wenn im Herbst die gordischen Wähler, nach vorheriger Zustimmung der Götter in Karlsruhe, den rot-grünen Knoten durchschlagen, wird Schwarz-Gelb so lange durchregieren, bis Babylon an der Spree in Trümmer fällt. Oder so. Jedenfalls erscheint es im Lichte von Westerwelles Rede doch als besser, wenn Merkels Ankündigung vom vergangenen Freitag, mit der SPD regieren zu wollen, kein Versprecher, sondern ein Versprechen gewesen wäre.

Doch, doch, zugegeben, angesichts des nahen Endes der rot-grünen Regierung kann man durchaus auch Wehmut verspüren - zumal wenn man sieben Jahre seines Lebens der Verfolgung dieser Regierung gewidmet hat. Ich weiß nicht, wie oft ich ihren Untergang an die Wand gemalt habe: mene mene tekel upharsin. Jedes Mal aber ist Belsazar Schröder nicht von seinen Knechten erschlagen worden, wie das im Buche Daniel zu lesen ist. Im Gegenteil: Der eine Knecht ist davongelaufen, der andere hat sich im Swimmingpool verirrt, und was sonst noch an widerständigem Knechtsgeist vorhanden war, wurde meistens in Koalitionsrunden oder im Agenda-Gulag niedergemünteferingt.

Jetzt aber brennt nicht nur die Flammenschrift an der Wand, sondern das ganze Gebäude. Aus seinem Inneren ist unter dem Krachen des Gebälks die Stimme Joseph Fischers zu hören: "Wir werden siegen, weil wir siegen müssen!" Ja, ja, Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch. So ein Großfeuer hat auch etwas Faszinierendes, zumal für uns "wirre Schönschreiber" (© Werner Schulz, Grüne), die wir lange Jahre vergeblich in den Ecken gezündelt haben.

Aber: Es wird nicht viel passieren.

In der nächsten Legislaturperiode werden freitags lediglich die CDU-Rollenkoffer die Mehrheit gegenüber den SPD-Rollenkoffern haben. Die Schwarzen werden die Steuern erhöhen, damit sie später oder gleichzeitig die Steuern wieder senken können. Die SPD hat es umgekehrt gemacht.

Die Rollenkoffer der Republik

Die Ökosteuer wird bleiben, weil sie nur so lange böse ist, wie sie die anderen einziehen. Wenn die Schwarzen an der Regierung sind, werden sie Subventionen streichen, die sie jetzt nicht streichen wollen, weil es sonst ein Erfolg für die Roten wäre. Alles, was schief geht, wird Merkel der Vorgängerregierung anlasten, so wie Schröder das meiste, was schief gegangen ist, auch der Vorgängerregierung angelastet hat, (mit Ausnahme von Lafontaine, Manfred Stolpe und Bela Anda, an denen Kohl wirklich unschuldig war).

Vorgebaut haben die Schwarzen schon für den Fall, dass sich kaum etwas ändern wird. Volker Kauder, der mutmaßliche nächste Fraktionschef der Union, hat gesagt, man brauche acht Jahre, um die Erblast von Rot-Grün abzutragen. Acht Jahre. Das sind zwei Legislaturperioden. Klingt ziemlich bedrohlich, was der Kauder da mitteilt: Stellt euch mal drauf ein, dass die Bundeskanzlerin bis 2013 nichts so recht Neues in die Gänge bringen wird.

Das klingt nicht unplausibel, zumal wenn man bedenkt, dass die Union fast acht Jahre nach Kohl immer noch dabei ist, ihre eigenen Erblasten zu bewältigen, zum Teil mit Unterstützung von außen, zum Beispiel von der Staatsanwaltschaft in Augsburg. Die hat etliche Leute vor Gericht gebracht, an die man sich heute in der völlig nach vorne blickenden Union gar nicht mehr erinnern kann, geschweige denn mag.

2013, im Jahr der Veränderung, werden wir dann nach dem Gesundheitsprämienkopfpauschalenlohnnebenkostenermäßigungsmodell krankenversichert sein. Die in Iran an der Seite Amerikas kämpfenden Bundeswehrsoldaten werden ihre Einkommenssteuererklärung auf einem per SMS zugesandten Bierdeckel machen können. In Bayern wird sich der Ministerpräsidentenkandidat Markus Söder überlegen, wie viele Kabinettsposten er wohl seinem grünen Koalitionspartner zugestehen muss. In Hessen und in Niedersachsen wird nach langer CDU-Herrschaft wieder die SPD regieren. Angela Merkel wird den Parteivorsitz niederlegen, um sich ganz auf die Kanzlerschaft zu konzentrieren.

Dann sind bald wieder die anderen dran, und wenn der Herr unser Vaterland sehr strafen möchte, wird er dafür sorgen, dass sich in der SPD irgendjemand zum Kanzlerkandidaten aufschwingt, der heute schon als Nachwuchshoffnung gilt, zum Beispiel Sigmar Gabriel. Hans-Ulrich Jörges wird im Stern schreiben, dass er schon immer gewusst hat, wie schrecklich alles ist. Und bei Sabine Christiansen - auch die wird es 2013 noch geben, allerdings wird sie aussehen wie heute Liz Mohn - werden sich gesichtsbehaarte Parteienforscher mit ausgelaugten Merkel-Ministern über das Ende des CDU-Staates streiten.

Es wird sich also nichts ändern. Falls ich 2013 noch leben sollte, werde ich beobachten, wie Dieter Wollstein im "Einstein" Unter den Linden die Leute mit Handschlag begrüßt. Viele werden im "Einstein" darüber sinnieren, dass es damals, 2005, gescheiter gewesen wäre, sie hätten eine große Koalition gemacht. Es wird Freitag sein, und gegenüber werden die Abgeordneten mit ihren Rollenkoffern das Haus verlassen. Die Rollen werden über das Pflaster hüpfen und es wird klingen, als sängen sie ein höhnisches Lied: "Bombadidomm, alles bleibt gleich, bombadibomm, alles bleibt gleich, bomdadibomm."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: