Wowereit-Nachfolger in Berlin:Hart erarbeitete Leichtigkeit

Michael Müller

"Hauptstadt der Digitalisierung": Nach neun Monaten im Amt will Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller allmählich größer ausholen.

(Foto: dpa)

Mit dem Image des bescheidenen Arbeiters kommt der Regierende Bürgermeister an. Doch Michael Müller will zeigen, dass Berlin mehr ist als ein Hotspot für Touristen und Künstler.

Von Jens Schneider, Berlin

Wie leicht alles gehen kann. Es gibt sehr verschiedene Arten, einem Dienstwagen zu entsteigen. Wenn Klaus Wowereit mit seiner Fahrzeugkolonne eintraf, war die Ankunft des fast ewigen Regierenden Bürgermeisters ein Auftritt. Sofort blickten alle auf ihn. Michael Müller steigt einfach aus. Die Tür öffnet sich, schnell schüttelt er einige Hände, steht kurz darauf neben dem kleinen Mondauto und hört einfach zu. Es ist der letzte Tag der Sommertour des 50-Jährigen, der seit einem dreiviertel Jahr die Hauptstadt regiert, es ist eine feine Gelegenheit, das Phänomen Michael Müller zu beobachten.

Ein Besuch bei Start-ups. Hier in Mahlsdorf treiben junge Forscher, die "Part-time-Scientists", ein kühnes Projekt voran. Sie entwickeln einen Roboter, der auf dem Mond landen und fahren könnte. Eine amerikanische Stiftung hat einen Preis samt Millionen-Prämie ausgeschrieben. Weltweit versuchen sich mehrere Teams daran. Die Berliner sind vorn dabei, zählen zu den fünf Projekten, die Anfang 2015 für ihre Ideen ausgezeichnet wurden. "Was sehen wir hier?", fragt Müller. "Was steckt an Technik drin?" Sein Gastgeber hat viel zu erzählen, Müller lässt ihm Zeit dafür. Er stellt nur weiter Fragen. Am Ende will er wissen: "Warum haben Sie sich für Berlin entschieden?" Der Gastgeber nennt die "sehr gute Kosten-Nutzen-Struktur hier in der Ecke". Berlin sei ein gutes Argument, wenn man gute Leute holen will.

Müller deutet ein Nicken an. Er könnte jetzt große Worte nachlegen und auf dicken Max machen. Dies ist seine Sommertour. Er will zeigen, dass Berlin mehr ist als ein Hotspot für Künstler und Touristen. Sein Berlin soll auch eine Stadt der Wirtschaft sein. Dicker Max, das war gestern. Als er am Ende der Tour ein Fazit ziehen soll, zählt Müller auf, was Start-ups brauchen: "Ich glaube schon, dass wir da in Berlin ganz gut dran sind."

"Meine Freunde sind Handwerker oder bei der Polizei"

Seit neun Monaten pflegt der Sozialdemokrat das Prinzip des zurückgenommenen Auftritts, als hätte Berlin darauf gewartet: Bei einem Bürgerforum eingeladen, hörte er sich eine Stunde an, was die Leute bewegt. Dann stellte er sich vor als "Michael Müller aus Tempelhof". Er sagte noch: "Meine Freunde sind Handwerker oder bei der Polizei." Man applaudierte.

Ein Jahr ist es her, dass Wowereit seinen Rücktritt ankündigte. Müller brauchte zwei Tage, bis er sich durchrang, für die Nachfolge zu kandidieren. Die SPD hatte ihn als Vorsitzenden abgewählt. Er galt als verkniffen - ewig dabei, ohne zu glänzen, zuletzt als Stadtentwicklungssenator. Die SPD steckte im Umfragetief, hinter der CDU. Heute führt sie klar, Müller erzielt Spitzenwerte. Parteifreunde freuen sich, weil er einen engen Draht zur SPD hält, die sich von Wowereit missachtet fühlte.

Müller bindet auch die Opposition ein. Als die Stadt sich empörte, weil Hunderte Flüchtlinge schlecht versorgt vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales lagerten, griff Müller, der Kümmerer, zum Telefon, um Hilfe herbeizutelefonieren, und lud dann die Fraktionschefs ein.

Bei Wowereit wäre das schwer vorstellbar gewesen. Von ihm ist oft die Rede, wenn Müllers Erfolg erklärt werden soll. "Michael Müller kommt noch so gut an, weil er nicht Klaus Wowereit ist", sagt die Oppositionspolitikerin Ramona Pop. Er verkörpere den Typ ehrlicher Arbeiter. "Allerdings wird es gefährlich für ihn werden, wenn der ehrliche Arbeiter keine Ergebnisse liefert." Die Grünen-Fraktionschefin sieht eine Pendel-Bewegung. "Nach dem Brioni-Kanzler gab es dann die Sehnsucht nach der unprätentiösen Frau Merkel."

Udo Wolf, Fraktionschef der Linken, erkennt "ein Bedürfnis nach einem, der nicht mehr so die Klappe aufreißt". Wowereit habe mit seiner Schnoddrigkeit und seinem sehr eigenen Glamour für ein neues Selbstbewusstsein gestanden. "Das mochten die Berliner. Aber das hat sich abgenutzt, als es immer mehr Affären und die Pannen rund um den Flughafen gab. Am Ende wirkte die Schnoddrigkeit, mit der auf Kritik reagiert wurde, abstoßend." Bei der sozialdemokratischen Klientel sei eine Sehnsucht "nach einem, der bescheiden auftritt, bodenständig, nach einem fleißigen Arbeiter zu spüren", sagt Wolf. "Das erfüllt Michael Müller, und es kommt ihm im Moment sogar zugute, dass er nicht immer auftritt, als ob er keine Fehler machen würde."

Dicker Max war gestern

Müller zeigte Respekt vor dem Amt, ihm fehlt die Gabe, das zu überspielen. "Ich finde, es ist doch eine sympathische Sorge, wenn einer sich fragt, ob er so ein Amt ausfüllen kann", sagt Wolf. "Er hat sich frei geschwommen. Da liegt das Geheimnis."

Die Leichtigkeit ist hart erarbeitet. Beobachter aus dem Umfeld der von ihm geführten großen Koalition berichten von launischen Allüren, er reagiere empfindsam auf Kritik. Sein äußerst loyaler Stab federe viel ab. Legendär ist sein Sarkasmus für den Fall, dass nicht alles nach Plan läuft. Müller ist ein Mensch, dem sofort anzusehen ist, wenn ihm etwas nahegeht. Weil er Ärger schlecht verbergen kann, lässt sich leicht erkennen, wie gestört das Verhältnis zu seinem christdemokratischen Stellvertreter ist, Innensenator Frank Henkel - der wiederum Distanz zeigt, Müller vor seiner CDU als Dilettanten hinstellte.

"Es war schon heftig, wie er in der Debatte über die Homo-Ehe seinen Koalitionspartner an die Wand nagelte", sagt die Grüne Pop. Da nutzte Müller die Gelegenheit, die CDU als rückständig vorzuführen. Die Parteien richten sich auf einen Koalitionswechsel nach der Wahl 2016 ein, bei den Gedankenspielen steht die SPD im Zentrum.

Müller kann für sich nutzen, dass es Berlin wirtschaftlich so gut geht wie lange nicht. Sein Senat kann es sich leisten, Gutes zu tun. Ein Jahrzehnt lang galt die von Wowereit ausgegebene Maxime, Berlin müsse sparen, "bis es quietscht", weil sonst die dramatische Verschuldung weiter steigen würde. Längst quietscht es, in Ämtern warten die Bürger Wochen auf Termine, die Straßen sind marode, Schulen vernachlässigt. Aber die Schuldendynamik konnte gestoppt werden, Berlin konnte sogar Schulden tilgen. Noch vor einiger Zeit lag die Verschuldung bei 63 Milliarden Euro, nun glaubt Müllers Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen, "dass wir bis Jahresende unter 60 Milliarden sind. Dann hätten wir in dieser Wahlperiode 2,9 Milliarden getilgt".

Berlin hat den Ruf als Schuldenmacher ablegt. Nun aber wird Geld ausgegeben, Müller hat ein großes 500-Millionen-Investitionsprogramm auflegen lassen. Die Bezirke bekommen zusätzliche Stellen, es wird in Wohnungen und Straßen investiert, und weil die Einnahmen gleichzeitig sprudeln, muss er keine neuen Schulden machen. Was Müller macht, gefällt auch den Linken in seiner SPD.

"Straßen bauen, Wohnungen bauen, wie man die SPD eben so kennt"

"Seine Politik ist ja so was von klassisch sozialdemokratisch", findet Ramona Pop von den Grünen, "Straßen bauen, Wohnungen bauen, wie man die SPD eben so kennt: viel Beton, wenig Grün. Der Rest ist Gedöns." Sie macht den Sozialdemokraten Avancen: Im Grunde brauche "die SPD einen Koalitionspartner wie die Grünen, damit das Dynamische, der Aufbruch, das Junge endlich so in der Politik des Senats vertreten wird, wie es auch in der Stadt vertreten ist." Bislang sei da "eine Leerstelle."

Eine große Vision für Berlin hat Müller nie versprochen. Als er seine bisher einzige Regierungserklärung hielt, stach nur ein kleines Versprechen hervor. Die schlimmen Zustände auf vielen Berliner Schultoiletten würden sich ändern. Niemand solle die kleinen Sorgen gering achten, sagte er. "Auch in einer Millionenstadt sind mir kleine Schritte lieber als große Luftschlösser."

Wenn man ihm jetzt begegnet, ist zu spüren, dass er inzwischen größer ausholen möchte. Dann denkt er darüber nach, wie Berlin sich als Metropole der Wirtschaft und Wissenschaft entwickeln, zur "Hauptstadt der Digitalisierung" werden könnte. Harte Arbeit, sein Thema.

Ein Luftschloss? Berlin hatte in den vergangenen zehn Jahren das höchste Wirtschaftswachstum aller Bundesländer. Bei der Gewinnung von Venture Capital für junge Start-ups überholte man London, das bisher europäischer Spitzenreiter war. Das kann er aufzählen, die Rede ist von einer neuen Gründer-Zeit in Berlin. Müller wird darauf achten wollen, dass es nicht nach dickem Max klingt.

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