Propalästinensische Proteste„Es gibt diese überbordende Gewalt der Polizei“

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Polizisten führen eine propalästinensische Besetzerin aus der Berliner Humboldt-Universität.
Polizisten führen eine propalästinensische Besetzerin aus der Berliner Humboldt-Universität. (Foto: Soeren Stache)

Seit anderthalb Jahren protestieren propalästinensische Sympathisanten gegen den Krieg Israels im Gazastreifen. Besonders in Berlin geht die Polizei wegen der Gewalttaten Einzelner mit großer Härte gegen die Demonstranten vor. Was macht das mit der Hauptstadt?

Von Jan Heidtmann, Berlin

Anfang Juni hat Alexander Dobrindt Post vom Menschenrechtskommissar des Europarates bekommen. Das Schreiben beginnt mit „Dear Minister“, dann aber ist es schon vorbei mit den Freundlichkeiten. Michael O’Flaherty prangert darin sehr deutlich den Umgang der deutschen Innenbehörden mit den Protesten im Zusammenhang mit dem Gazastreifen an. Dem Iren geht es vor allem um Berichte über „exzessive Polizeieinsätze“ gegen Demonstranten – besonders aus Berlin. Es ist eine Kritik, die man eher an die Adresse eines autoritären Staates erwarten würde, nicht an die eines deutschen Bundesinnenministers.

Entsprechend irritiert gibt sich Staatssekretär Bernd Krösser in seiner Antwort. Er wolle sehr deutlich machen, „dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Deutschland ein elementares Rechtsgut ist“. In Berlin sei seit dem Angriff der Hamas auf Israel nur eine einstellige Zahl an propalästinensischen Versammlungen untersagt worden. „Ich habe keinerlei Zweifel, dass die Berliner Behörden verhältnismäßig handeln.“

Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich als Hamas-Sympathisanten stigmatisiert

Abgesehen davon, dass allein in den ersten sechs Wochen nach dem 7. Oktober 2023 in Berlin weit über ein Dutzend propalästinensischer Kundgebungen verboten wurden, ist die positive Sicht des Staatssekretärs zumindest fragwürdig. Gerichte durchkreuzen die harte Linie des Berliner Senats gegen propalästinensische Demonstranten regelmäßig, zugleich häufen sich die Berichte über Polizeigewalt. Und die Berliner mit arabischem Migrationshintergrund fühlen sich inzwischen pauschal als Hamas-Sympathisanten stigmatisiert. „Ich kenne kein anderes Bundesland, wo so rabiat gegen Versammlungen vorgegangen wird, wenn sich Leute mit Gaza solidarisch zeigen“, sagt Clemens Arzt.

Als Professor für Staatsrecht hat er jahrelang Polizisten in Polizei- und Ordnungsrecht ausgebildet. Noch heute geht der 67-Jährige auf Demonstrationen, um sich selbst ein Bild zu machen – zuletzt am Nakba-Tag im Mai, an dem Palästinenser ihrer Vertreibung gedenken. „Israelhasser treten Polizisten nieder“, zog der Tagesspiegel nach der Versammlung in Berlin-Kreuzberg Bilanz. Clemens Arzt hat die Kundgebung jedoch anders erlebt: „Es gibt diese überbordende Gewalt der Polizei, diese Schläge ins Gesicht, das ist entgrenzte Gewalt.“ Die Beamten würden mit einer Härte gegen die Demonstranten vorgehen, die er in den vergangenen Jahrzehnten nicht erlebt habe.

Deeskalation oder Konfrontation? Polizeipräsenz bei Protesten an der Freien Universität Berlin.
Deeskalation oder Konfrontation? Polizeipräsenz bei Protesten an der Freien Universität Berlin. (Foto: Sebastian Gollnow)

Gerade Berlin mit den früher häufig gewalttätigen Protesten am 1. Mai hatte sich lange für eine Politik der Deeskalation entschieden. Dazu gehörte, dass die Polizei nicht bei jeder möglichen Straftat sofort eingegriffen hat, zum Beispiel, wenn ein Demonstrant vermummt war. Die Beamten warteten dann auf einen günstigen Moment, um ihn ohne großes Aufsehen aus der Menge zu holen.

Nach dem 7. Oktober 2023 ist der entgegengesetzte Weg eingeschlagen worden: Die Verwendung von Parolen propalästinensischer Demonstranten wie „From the river to the sea“, die je nach Kontext als Angriff auf das Existenzrecht Israels gedeutet werden können, gilt nun als Propagandadelikt und damit potenziell als Straftat. Verstöße ahndet die Polizei meist unmittelbar und offensichtlich robust. Ein Automatismus, der nach Ansicht von Clemens Arzt regelmäßig zur Eskalation führe: „Es ist ein grundsätzliches Muster, dass die Polizei eine Äußerung als Meinungsdelikt einordnet, dann in die Menge hineingeht und es zu einer Auseinandersetzung kommt.“ Dabei folge die Polizei der Linie, die die Politik vorgebe: „Natürlich gibt es da massiven Druck“, meint der Staatsrechtsprofessor.

In Berlin lebt die größte palästinensische Gemeinde in Deutschland

Den Ton dafür setzte der CDU-geführte Senat direkt nach dem Überfall der Hamas auf Israel: Fast die Hälfte der angemeldeten propalästinensischen Demonstrationen wurde verboten. Händler auf der Sonnenallee in Berlin-Neukölln holten ihre Palästina-Fahnen aus Angst um ihre Aufenthaltsberechtigung in Deutschland ein. An vielen Schulen war es den Schülern untersagt, das Palästinensertuch, die Kufija, zu tragen, an anderen durfte nicht öffentlich über den Nahost-Konflikt diskutiert werden.

Direkt nach dem 7. Oktober 2023 war die Sorge des Berliner Senats vor gewalttätigen Ausschreitungen erheblich. In der Hauptstadt lebt die größte palästinensische Gemeinde in Deutschland, die Bundesministerien haben hier genauso ihren Sitz wie auch viele Medien. Das befeuerte die Proteste. Noch am Tag nach dem Massaker der Hamas feierten radikale Palästina-Aktivisten des Vereins Samidoun in Berlin-Neukölln den Überfall, wenig später warfen Unbekannte Molotowcocktails in Richtung einer Synagoge im Stadtteil Mitte, die aber nicht explodierten. Und auf der Sonnenallee lieferten sich junge Männer spätabends immer wieder Straßenschlachten mit der Polizei.

Ein Zugriff der Berliner Polizei bei der Demonstration am 15. Mai zur Erinnerung an die Nakba, die palästinensische Vertreibung.
Ein Zugriff der Berliner Polizei bei der Demonstration am 15. Mai zur Erinnerung an die Nakba, die palästinensische Vertreibung. (Foto: Ebrahim Noroozi/AP)

Doch auch Wochen und selbst Monate nach dem 7. Oktober setzte der Senat weiter auf Konfrontation statt auf Deeskalation. Ziel waren dabei längst nicht mehr nur die Proteste auf den Straßen, sondern auch an den Universitäten.

Die anfangs liberale Linie der Universitätsführungen gegenüber propalästinensischen Aktivisten wurde von der Landes- und der Bundesregierung als Unterstützung von Antisemitismus gegeißelt. 1400 Akademiker, die sich in einem offenen Brief für friedlichen Protest und gegen die Räumung eines Camps an der Freien Universität Berlin (FU) aussprachen, sahen sich massiver Kritik von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ausgesetzt. Anschließend ließ ihr Haus prüfen, ob den Unterzeichnern staatliche Förderung entzogen werden könnte.

Aus 30 bis 50 Gewaltbereiten werden „15 000 Judenhasser“

Julia von Blumenthal, Präsidentin der Humboldt-Universität, wiederum wollte im vergangenen Jahr eine Hörsaalbesetzung im Dialog mit den Protestierenden lösen. Doch durch „Anweisung von ganz oben“, wie sie selbst sagte, von Berlins Bildungssenatorin Ina Czyborra (SPD) in Absprache mit dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) musste sie die Polizei räumen lassen. Die Präsidentin der Alice Solomon Hochschule hingegen, Bettina Völter, sperrte sich in einer ähnlichen Situation gegen den Einsatz der Beamten. Dafür wurde sie vom Regierenden Bürgermeister öffentlich gemaßregelt: Es sei ihm „völlig unverständlich“, dass die Präsidentin die Polizei als Bedrohung sehe und nicht die „vermummten und gewalttätigen Antisemiten“.

Ende 2024 sah die Bilanz dieser restriktiven Politik dann nach Zahlen so aus: 1451 antisemitische Delikte wurden in Berlin im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt erfasst; im Jahr zuvor waren es 533. Am stärksten nahmen die Fälle zu, in denen Symbole oder Zeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen gezeigt wurden, sogenannte Propagandadelikte, von 44 auf 531. Gewaltdelikte wie Körperverletzung oder Landfriedensbruch sanken hingegen von 72 auf 67.

Demonstranten bei der Kundgebung „United 4 Gaza!“ am 21. Juni vor dem Reichstagsgebäude.
Demonstranten bei der Kundgebung „United 4 Gaza!“ am 21. Juni vor dem Reichstagsgebäude. (Foto: Rals Hirschberger/AFP)

Gerade bei den Propagandadelikten sprechen die Gerichte Beschuldigte jedoch immer wieder frei. „Aus den Gesamtumständen des Einzelfalls war die Äußerung für einen objektiven Beobachter daher erkennbar nicht als Kennzeichen der Hamas, sondern als Solidarisierung mit den Palästinensern im aktuellen Gaza-Krieg gemeint“, urteilte das Landgericht Berlin in einem exemplarischen Fall vom April dieses Jahres. Doch obwohl inzwischen allseits bekannt ist, dass die Gewalt bei den Protesten von höchstens 30 bis 50 Personen ausgeht, werden weiterhin Pauschalurteile gepflegt. „15000 Juden-Hasser dürfen marschieren“, schrieb die Bild-Zeitung Ende Juni über eine propalästinensische Demonstration.

Die klaren Linien, die damit gezogen werden, sind umso überraschender, als sich wegen der äußerst brutalen Kriegsführung der Armee in Gaza gerade die Stimmung gegenüber Israel wendet. Selbst Bundeskanzler Friedrich Merz, der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kürzlich noch trotz eines internationalen Haftbefehls einladen wollte, äußerte sich zwischenzeitlich kritisch gegenüber der israelischen Regierung. Unter den Deutschen insgesamt unterstützen nach jüngsten Umfragen nur noch 13 Prozent das Vorgehen Israels im Gazastreifen.

Wo ist der Dialog, wo die Empathie?

Vor dem Roten Rathaus in Berlin weht derweil weiter die Flagge Israels, das Leid der Menschen in Gaza aber taucht maximal in Nebensätzen politischer Erklärungen auf. Dieser Umgang des Berliner Senats mit den Protesten sei „Gift für den sozialen Zusammenhalt“ der Stadt, meint Jannis Julien Grimm. Der Protestforscher von der FU Berlin hat sich mit seiner Recherchegruppe in mehreren Studien mit den Protesten palästinensischer Sympathisanten und seinen Auswirkungen auf die Stadt beschäftigt. „Es fehlt nicht nur an Empathie, es gibt überhaupt keinen Versuch, sich zu verstehen“, sagt Grimm. Das gelte für beide Seiten, „nur, dass die propalästinensische Community gegenüber dem Staat am kürzeren Hebel sitzt.“

Zugleich sei Antisemitismus zu einem Kampfbegriff geworden, so wie „Wokeness“: „Im Kontext der Palästina-Solidarität wird damit eine ganze Gemeinschaft kriminalisiert.“ Die Menschen sähen sich unter Generalverdacht gestellt.

„Migrantische Gemeinschaften bis zum Späti-Besitzer fühlen, dass sie nicht mehr als normale Mitbürger wahrgenommen werden“, sagt Grimm, „sondern wie nach 9/11 plötzlich wieder als ‚die Anderen‘.“ Als Muslime, als Araber, als potenzielle Hamas-Sympathisanten. Die Folgen davon seien klar: „Die Demonstrationen werden zunehmend zum einzigen Ort, an dem man noch Menschen um sich hat, die den eigenen Schmerz verstehen.“

Die Einschätzung Grimms deckt sich mit der Bewertung des Menschenrechtskommissars O’Flaherty. In seinem Brief kritisiert er, dass die sehr weite Definition des Antisemitismusbegriffs bei den deutschen Behörden dazu geführt habe, Kritik an Israel teils pauschal als antisemitisch zu klassifizieren. Forscher Grimm kann dazu inzwischen einiges aus seiner Wissenschaftscommunity erzählen: Wer sich etwa öffentlich kritisch zur israelischen Kriegsführung in Gaza äußere, bekomme Hassmails und Drohungen. „Bis zu zerschnittenen Reifen ist da alles dabei“, sagt Grimm.

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