Coronavirus:Seiltanz in Berlin

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Schrottimmobilien, in denen Migranten oft unter erbärmlichen Bedingungen wohnen: Werbung vor einem Gebäudekomplex in Berlin-Friedrichshain, in dem sich mindestens 44 Menschen mit Corona infiziert haben sollen. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Der Senat lockert die Auflagen, während ganze Mietshäuser unter Quarantäne stehen. Wie die Hauptstadt mit Hotspots in einzelnen Bezirken umgeht.

Von Jan Heidtmann

Dass sich die Ereignisse immer mal wieder überschlagen, ist in Berlin nicht unbedingt etwas Besonderes. In Sachen Corona verlaufen die Entwicklungen jedoch gerade derart gegensätzlich, dass sie kaum noch zusammenzudenken sind. Die Beschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie werden zum Samstag erheblich gelockert. Zugleich werden immer mehr Fälle publik, in denen Bezirke ganze Häuser wegen Corona-Infektionen unter Quarantäne stellen - zuletzt im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. 200 Menschen seien dort betroffen, mindestens 44 hätten sich infiziert, erklärt das Gesundheitsamt.

Es ist ein Seiltanz, den Berlin da vorführt, mit all seinen Risiken. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) hatte die nächste Runde der Entspannung deshalb auch nur widerwillig mitgetragen: "Die durch die Lockerungen aufgehobenen Kontaktbeschränkungen könnten missverstanden werden." Der R-Wert, der angibt, wie viele Menschen von einem Infizierten angesteckt werden, liegt in der Stadt jedenfalls bereits seit drei Tagen weit über dem Grenzwert von 1,2.

Ein Grund, dass der Senat dennoch die Beschränkungen weiterhin lockert, liegt darin, dass die Gruppe der Neuinfizierten recht klar umrissen ist. In den Häusern, die unter Quarantäne gestellt wurden, leben zum größten Teil Sinti und Roma, oft unter erbärmlichen Bedingungen, dicht an dicht, in den Hinterhöfen stapelt sich der Müll. Viele von ihnen sind Tagelöhner aus Rumänien, die für ein paar Wochen nach Berlin gekarrt werden und sich dann hier verdingen müssen. Halbseidene Mittelsmänner verdienen an ihnen, aber auch die Hausbesitzer, die die Matratzenlager in den sogenannten Schrottimmobilien dulden. Im Fall eines der Häuser, die in Neukölln unter Quarantäne stehen, ist das der Steuerberater Thilo Peter. Er ist auch Mitglied im Vorstand der CDU in Charlottenburg-Nord. Die Nachbarschaft prangert die Verhältnisse in dem Haus seit Jahren an, geändert hat sich nichts. Die Corona-Infektion bringt die jämmerliche Situation nun an die Öffentlichkeit. Mitglieder des Technischen Hilfswerks versorgen die unter Quarantäne stehenden Menschen dort und auch in anderen Bezirken. Alle Bewohner werden derzeit auf Corona getestet.

Viele von ihnen sind Anhänger einer Pfingstgemeinde. Daher untersuchen die Gesundheitsbehörden, ob sich bei deren Gottesdiensten das Virus verbreitet haben könnte. Einer der Pfarrer ist jedenfalls an Covid-19 erkrankt, er war offenbar auch in anderen Städten unterwegs. In Magdeburg gehen die Behörden dieser Spur ebenfalls nach. "Noch sind das Ausbrüche in Berlin, die lokal isolierbar sind", warnte Gesundheitssenatorin Kalayci nun im Sender RBB. "Die eigentliche Gefahr liegt darin, dass sich Neuinfektionen streuen."

Dass der Berliner Senat weitere Beschränkungen fallen lässt, kann aber auch einfach daran liegen, dass die Einschränkungen in der Stadt kaum mehr durchzusetzen sind. Nicht nur ein riskanter Rave auf zahllosen Schlauchbooten vor ein paar Wochen machte Schlagzeilen. Gerade wurde auch bekannt, dass Jugendliche seit Wochen nachts in den Parks feiern - in großen Gruppen.

© SZ vom 25.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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