Angela Merkel hat eine der schlimmsten Wochen ihrer Kanzlerschaft hinter sich. Einerseits. Die eigene Schwesterpartei brandmarkt sie als ignorante Hasardeurin, die Zustimmung in den Umfragen sinkt rapide, überall in Europa ertönt der Vorwurf, Deutschland heize mit seiner Politik die Flüchtlingskrise nur noch an.
Dann die Zahlen: gemessen am Vorjahr ein Rekord an Bootsflüchtlingen von der Türkei nach Griechenland. Neue Tote, allein zwölf am Donnerstag, mindestens 44 am Freitag, darunter 20 Kinder. Und nun der Besuch des türkischen Premiers Ahmet Davutoğlu am Freitag in Berlin, der auf den ersten Blick wenig Hoffnung machte.
Die düsteren Alternativen werden sichtbar
Andererseits: Unablässig wächst der Druck auf all diejenigen, die sich bisher Merkels Logik - Außengrenzen sichern, Migranten dort abfangen, zurückschicken oder nach einem Schlüssel verteilen - verweigert haben. Denn plötzlich werden die düsteren Alternativen sichtbar. Österreich tat Merkel am Mittwoch den Gefallen und machte für ganz Europa klar, was eine Obergrenze bedeutet: Grenzen zu, Flüchtlinge werden zurückgeschickt - es sei denn, sie sagen ausdrücklich, dass sie nach Deutschland wollen.
Diese Ankündigung hatte eine dreifache Wirkung: In Deutschland wuchs sofort die Furcht, dass nun noch mehr Migranten kommen könnten. Entlang der Balkanroute stieg die Panik, mit den Gestrandeten alleingelassen zu werden. Und in Griechenland (wie auch in Italien) wurde den Regierungen bewusst, dass sie ganz unten in der Hackordnung stehen - hier kommen die Flüchtlinge eben an in Europa.
Der Angstpegel steigt
Und weil auch die Wirtschaft bei ihrem alljährlichen Skiausflug nach Davos, in Sorge vor fallenden Schlagbäumen und dem Ende der innereuropäischen Freiheiten, in Angstausbrüche verfiel, entwickelte sich eine für Merkel nicht unangenehme Stimmung: Langsam dämmert es vielen in Europa, dass dies kein deutsches Problem allein ist. Und dass eine Serienschließung aller Grenzen unberechenbare Folgen haben könnte. Oder, wie ein Merkel nicht sonderlich gewogener Koalitionär sagte: "Es ist eben was anderes, ob Österreich die Grenzen dichtmacht oder Deutschland. Dann rumst es in Europa."
Viele Wortmeldungen in den vergangenen Tagen haben gezeigt, dass der Angstpegel steigt: Der französische Präsident und sein Premier, die Regierungschefs aus Griechenland, Italien und den Niederlanden - überall die gleiche, widersprüchliche Botschaft: Wir müssen alle Grenzen sichern, wir können nicht alle aufnehmen - aber wir müssen auch das Schengen-System retten.
Dieses Wetterleuchten wird in Berliner und Brüsseler Regierungsstuben bereits heftig gedeutet: Spannungen könnten entstehen zwischen Balkanstaaten, schon jetzt fliegen Anschuldigungen hin und her. Merkel selbst hatte vor Monaten gar von Kriegsgefahr gesprochen. Größer aber ist die Sorge, dass Italien und Griechenland destabilisiert werden. Es sind diese Länder, deren schwache Wirtschaft unter dem Flüchtlingsdruck zusammenbrechen und den Rest Europas mit hinabziehen könnte. Auch diese Länder sind anfällig für Extremismus.
Ein Anruf kam Merkel gerade recht
Weil Merkel dringend Hilfe gebrauchen kann, kam ihr ein Anruf aus dem fernen Washington gerade recht: Barack Obama lobte sie am Donnerstag öffentlich und versprach viel Geld für die Flüchtlingshilfe.
Er will jetzt eine eigene Flüchtlingskonferenz initiieren, im September in New York. Merkel indes schaut auf andere Termine. Europäische Probleme können nur europäisch gelöst werden - auf einem der nächsten EU-Gipfel, spätestens im März. Bis dahin muss der Leidensdruck so groß sein, dass sich alle bewegen - oder sie hat verloren.
Drei Milliarden für die Türkei - diese Zusage ist schwer einzuhalten
Auf einer für Merkel wichtigen Baustelle wurde am Freitag in Berlin gearbeitet. Weit vorangekommen scheint man aber nicht zu sein, die Türkei dazu zu bringen, die Zahl der Flüchtlinge nach Europa schnell und spürbar zu senken. Nach den ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen zeigt sich, dass Ankara und Berlin zwar um ein gutes Klima bemüht sind. Aber noch besteht zu viel Misstrauen auf beiden Seiten.
Das verhindert, dass zumindest öffentlich weitere Verpflichtungen eingegangen werden. Wie schon oft sagte der türkische Ministerpräsident zu, gegen die "illegale Migration" übers Mittelmeer schärfer vorzugehen. Und er versprach, mit der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex enger zusammenzuarbeiten. Aber das hatte Ankara schon Ende November zugesichert.
Nicht anders war es auf deutscher Seite. Merkel betonte, dass die Türkei die versprochenen drei Milliarden Euro für die Flüchtlinge ganz, ganz sicher erhalten werde. So entschlossen das klang: Für Merkel ist es schwer, selbst diese ziemlich alte Zusage einzuhalten.