Bericht des Wehrbeauftragten:Die Sache mit den Fesselspielen

Jahresbericht des Wehrbeauftragten

Bis hierher und keinen Zentimeter weiter: Bundeswehrsoldaten kurz vor der Vereidigung.

(Foto: dpa)

Harte Strafen, Gewalt und Alkoholmißbrauch: Früher dominierten andere Themen die Beschwerden der Soldaten. Ein Rückblick auf 55 Jahre Bericht des Wehrbeauftragten.

Von Christoph Hickmann und Dominik Wullers

Falsch gesungen hatten die Rekruten oder, wie es hinterher im Bericht hieß, das Marschlied "unsachgemäß vorgetragen". Also ließ der Stabsunteroffizier (er hatte im Krieg gedient) die Soldaten einen Hang, schlammig, vom Regen aufgeweicht, hochrobben, immer wieder. Ein Rekrut musste anschließend ins Lazarett gebracht werden. Als der Brigadekommandeur von dem Fall erfuhr, bekam der Stabsunteroffizier 14 Tage Arrest. Auf Bewährung.

Heute würde solch ein Fall großes Aufsehen erregen - man denke an das öffentliche Echo, als vor vier Jahren herauskam, dass es bei den Gebirgsjägern in Mittenwald ein gängiges Aufnahmeritual war, die Soldaten rohe Schweineleber und Frischhefe essen zu lassen. Doch 1959 waren die Sitten in der gerade gegründeten Bundeswehr offensichtlich noch etwas rauer.

1959? Der Fall mit dem schlammigen Hügel findet sich im Bericht des Wehrbeauftragten über jenes Jahr. Es war der erste dieser Berichte, die seitdem jährlich vorgelegt werden, am Dienstag hat Hellmut Königshaus, der aktuelle Wehrbeauftragte, Bericht Nummer 55 dem Bundestagspräsidenten übergeben und dann der Öffentlichkeit präsentiert. Auch diesmal geht es selbstverständlich um Vorgesetzte und deren Fehlverhalten - aber was hat sich in all den Jahrzehnten verändert? Worüber beschwerten Soldaten sich früher, worüber beschweren sie sich heute? Und was sagt das über den Zustand der Bundeswehr?

Homosexueller Wehrbeauftragter versuchte sich umzubringen

Der erste Wehrbeauftragte kam nicht, wie heute üblich, aus der Politik - sondern war ein ehemaliger Soldat: Generalleutnant a. D. Helmuth von Grolman. Sein erster Bericht löste einen heftigen Streit mit dem damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß über die Zuständigkeiten des Amts aus, das der Bundestag nach schwedischem Vorbild eingerichtet hatte: Strauß befand, Grolman habe kein Recht, den inneren Geist und Zustand der Bundeswehr zu kritisieren. Im Jahr darauf stellte Grolman sein Amt zur Verfügung, als Gerüchte über seine Homosexualität aufkamen - und versuchte, sich umzubringen.

Sein Nachfolger wurde der Vizeadmiral a. D. Hellmuth Heye. Er hatte bereits politische Erfahrung als CDU-Bundestagsabgeordneter gesammelt, hielt sich aber ebenfalls nicht mit Kritik zurück und warnte vor einer Bundeswehr, die sich von der Gesellschaft abkopple und isoliere. Auch hier folgte Streit mit dem Verteidigungsministerium, auch Heye trat zurück. Er blieb der vorerst letzte Wehrbeauftragte mit Generalstabserfahrung. Anstelle der sicherheitspolitischen Debatte rückten nun die Nöte der Soldaten in den Vordergrund.

Doch die Nöte von einst waren andere als heute - und sie plagten offensichtlich auch eher die unteren Ränge. So wandten sich 1960 gerade einmal 18 Offiziere an den Wehrbeauftragten. Im Jahr 2012 waren es dann bereits 787 Offiziere, die eine Eingabe formulierten, und im neusten Bericht sind es 909, darunter zehn Generäle. Die absoluten Zahlen der Eingaben lassen sich nicht vergleichen, weil die Bundeswehr früher größer war. So gab es Anfang der Neunzigerjahre noch um die 10 000 Eingaben, während es 2013 gut 5000 waren. Die Quote der Eingaben pro 1000 Soldaten liegt heute trotzdem höher als früher.

Schläge mit Gürtel und Bettpfosten

Dabei ging es früher vor allem unter den einfachen Soldaten offensichtlich noch deutlich rustikaler zu. So war es üblich, unzuverlässige Kameraden mit Strafaktionen zu erziehen. Was in den US-Streitkräften als "Code Red" bekannt ist, war in der frühen Bundeswehr als "Heiliger Geist" gang und gäbe. Der sollte unerkannt über die Opfer kommen und ihnen die Erleuchtung über Nacht bringen. So schlugen 1960 drei Soldaten mit Gürteln auf einen schlafenden Gefreiten ein, den sie als "Schleimer" ausgemacht hatten. Als sie ihn nach dieser ersten Attacke ein zweites Mal heimsuchten, endete dies für das Opfer mit einem vierwöchigen stationären Lazarettaufenthalt.

Seine Peiniger hatten ihn mit einem abnehmbaren Bettpfosten aus Metall zusammengeschlagen - und wurden dafür vor Gericht in erster Instanz freigesprochen. Erst in zweiter Instanz gab es Bewährungsstrafen. Da wirkt der im vergangenen Jahr bekannt gewordene Vorfall, bei dem mehrere Soldaten an Bord eines Schnellboots einen Bootsmann auf einen Tisch gefesselt und bemalt hatten, geradezu wohltuend harmlos. Allerdings handelte es sich dabei um eine Attacke auf einen Vorgesetzten.

So etwas gab es auch schon früher - häufig unter dem Einfluss von Alkohol, der damals offensichtlich eine größere Rolle spielte als heute. So trank etwa ein Wehrpflichtiger 1962 eine Flasche Weinbrand, um den Geburtstag seiner Frau zu feiern (die nicht anwesend war). In der Folge schlug er erst einen diensthabenden Unteroffizier und dann einen eilig herbeigerufenen Offizier, woraufhin er von sechs Mann in Gewahrsam genommen werden musste.

Die Methoden widerborstige Untergebene zu maßregeln, waren kreativer - und brutaler

Die Methoden, widerborstige Untergebene zu maßregeln, waren kreativer, aber immer wieder auch weit jenseits des Zulässigen. So ließen mehrere Vorgesetzte Ende der Sechzigerjahre minderjährige Soldaten in geschlossene Nervenheilanstalten bringen. Anlass war unter anderem eine Befehlsverweigerung. Der Wehrbeauftragte erkundigte sich daraufhin bei einem behandelnden Arzt - und erfuhr, aus der Bundeswehr würden häufig Soldaten eingewiesen, ohne dass "aus psychiatrischer Sicht die Voraussetzungen" vorlägen.

Beginnend mit den Sechzigerjahren machte auch die Politisierung vor der Bundeswehr nicht Halt. Während sich die Anzahl der Kriegsdienstverweigerer von 1967 bis 1970 verdreifachte, nahmen mehr und mehr Soldaten eine kritische Haltung gegenüber jener Gesellschaftsordnung ein, der sie dienen sollten. So nahmen 1971 mehrere Soldaten an antimilitärischen Veranstaltungen der DKP teil. In Uniform.

Sexuelle Übergriffe und mangelnde Akzeptanz von Frauen

Über die Jahre nahmen vor allem Gewalttaten ab, stattdessen rückten andere Themen in den Vordergrund - was noch einmal besonders gilt, seitdem auch Frauen an der Waffe dienen. Tauchte Anfang der Neunzigerjahre, also nach dem Ende des Kalten Kriegs, noch die Frage nach Sinn und Unsinn der Wehrpflicht in den Berichten des Wehrbeauftragten auf, gab es in den Jahren von 2000 an zahlreiche Beispiele für sexuelle Übergriffe und die mangelnde Akzeptanz von Frauen in der Truppe. Erst in der vergangenen Woche konnte man in einer vom Verteidigungsministerium präsentierten Studie nachlesen, dass hier nach wie vor einiges zu tun ist.

Etwa von 2010 an dominiert dann ein Thema, das die neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) bereits zur Priorität erklärt hat: die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Im neusten Bericht betreffen etwa zehn Prozent aller Eingaben dieses Thema (während es beim Themenkomplex Menschenführung/Soldatische Ordnung noch immer 17 Prozent sind). Insofern ist die Bundeswehr das Spiegelbild einer Gesellschaft, in der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf einen immer höheren Stellenwert bekommt.

Hinzu kommen seit einigen Jahren Berichte über Überlastungen durch Einsätze. Die Bundeswehrreform hat die Unzufriedenheit zudem deutlich erhöht. Insgesamt festhalten lässt sich, dass die Beschwerden heute weniger als früher marodierende Vorgesetzte betreffen und häufiger Härten, die der Dienst etwa für das soziale Leben mit sich bringt - sei es durch häufige Einsätze oder durch allzu häufige Versetzungen im Inland, die für viele Soldaten zur Folge haben, dass sie ihre Familie nur noch am Wochenende sehen.

Beschimpfungen wie "Schwuchtel"

Ansonsten bleibt die Bundeswehr die Bundeswehr, auch heute noch kommt es zu krassen Vorfällen. So findet sich im neusten Bericht der Fall eines Bataillonskommandeurs, der Soldaten als "Schwuchteln" bezeichnet und einem Untergebenen mit italienischen Wurzeln mitgeteilt habe, dieser sei kein "Arier" und nicht würdig, die Uniform zu tragen.

Ganz neu ist selbst das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Dienst nicht. So wies der Wehrbeauftragte schon 1960 auf Klagen von Soldatenehefrauen hin. Damals waren die Kasernierungsregeln deutlich strikter, viele verheiratete Soldaten mussten auf eine dienstliche Unterkunft für sich und ihre Familie warten und bis dahin mit mehreren Kameraden auf einer Stube leben. Die Wartezeit für Frischverheiratete? Bis zu zweieinhalb Jahre.

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