Interview am Morgen: Humanitäre Lage in Bergkarabach:"Beide Seiten leiden"

Women cry as their relatives are missing under the debris of a blast site hit by a rocket during the fighting over the breakaway region of Nagorno-Karabakh in the city of Ganja

Frauen trauern nach einem Raketeneinschlag um ihre Angehörigen in der Stadt Ganja in Aserbaidschan.

(Foto: REUTERS)

In Bergkarabach schwelt der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Die Sprecherin der dortigen Rot-Kreuz-Mission, Eteri Musajeljan, schildert die Not der Menschen und die Unterversorgung in den Krankenhäusern.

Interview von Anna Ernst

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) gehört zu den wenigen unabhängigen Beobachtern, die den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach seit Jahrzehnten begleiten. Eteri Musajeljan ist Sprecherin der Rot-Kreuz-Mission in Stepanakert, der Hauptstadt der Region Bergkarabach.

SZ: Was erhoffen Sie sich von der Waffenruhe?

Eteri Musajeljan: Wir begrüßen das Abkommen und stehen bereit in unserer Rolle als neutraler Vermittler, um bei der Übergabe der Leichen und bei der Freilassung der Inhaftierten zu helfen. Wir hoffen, dass die sterblichen Überreste derjenigen, die im Kampf getötet wurden, schnell an ihre Angehörigen zurückgegeben werden können, damit in Würde getrauert werden kann. Wir hoffen auch, dass dieses Waffenstillstandsabkommen eine Erleichterung für Familien bedeutet, die mit den intensiven Kämpfen leben mussten.

Können Sie das Ausmaß der Zerstörung beschreiben?

Das schwere Artilleriefeuer und die Luftangriffe, auch mit Raketen, haben zu Zerstörungen und Schäden an Hunderten Häusern und an wichtiger Infrastruktur wie Krankenhäusern und Schulen auf beiden Seiten geführt. Viele Familien haben ihre Heimat verlassen. Andere haben sich in Keller zurückgezogen.

Wie viele Menschen sind aus dem Kriegsgebiet geflüchtet?

Wir haben noch keine endgültigen Zahlen vorliegen. Wir stützen uns bei der Arbeit derzeit auf die Angaben der Behörden: Die sprechen von fast 75 000 Menschen, die entweder in ein Nachbardorf oder nach Armenien geflohen sind.

Wie geht es den Menschen, die in den Kellern ausharren mussten?

Auch wir konnten uns aufgrund der intensiven Kämpfe nur sehr eingeschränkt bewegen und konnten die Menschen nicht vor Ort aufsuchen. Aber wir halten per Telefon Kontakt. Wir wissen, dass die Leute Angst haben, sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen nicht, wo sie sicher sind.

Auch die Stromversorgung soll nach Angriffen in Stepanakert ausgefallen sein.

Ja. Es gab Stromausfälle in der Stadt. Das hat die Situation in den Schutzkellern weiter verschlechtert: Dort ist es kalt, es gibt keine Heizungen. Die Zivilisten spüren die Wucht der Gewalt am stärksten. Das wird auch die psychische Verfassung aller Menschen hier beeinträchtigen, die bereits seit fast 30 Jahren mit den Auswirkungen dieses Konflikts leben müssen. Beide Seiten leiden unter der Eskalation.

Wie kann das Rote Kreuz unter diesen Bedingungen helfen?

Die Krankenhäuser in Bergkarabach haben zum Blutspenden aufgefordert. Alle Eingriffe, bei denen es sich nicht um Notfälle handelt, wurden verschoben. Wir haben die Kliniken mit Hilfsmitteln wie Medizin, Decken und Nahtmaterial ausgestattet. Wir sind darauf eingestellt, dass die Nachfrage nach Ausrüstung noch steigt, nach Krankentragen, nach kriegschirurgischem Gerät und nach Leichensäcken.

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