Südkaukasus:Armenien verkündet Waffenruhe mit Aserbaidschan

Eine Bestätigung aus Baku gibt es noch nicht. Ein Grund für die Kämpfe der vergangenen Tage könnte die Ablenkung Russlands durch den Krieg in der Ukraine sein.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Nach zwei Tagen schwerer Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien im Südkaukasus haben beide Seiten nach armenischen Angaben eine Waffenruhe vereinbart. Die Feuerpause gelte seit 20 Uhr Ortszeit, sagte der Sekretär des armenischen Sicherheitsrates, Armen Grigorjan, im Fernsehen in Eriwan. "Unter Teilnahme der internationalen Gemeinschaft ist eine Vereinbarung über eine Waffenruhe erzielt worden", sagte er. Eine Bestätigung aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku gab es nicht.

Das armenische Verteidigungsministerium erklärte am Abend, dass der Beschuss in den Grenzgebieten eingestellt worden sei. In den Kämpfen seit der Nacht zu Dienstag wurden nach Angaben von Ministerpräsident Nikol Paschinjan mehr als 100 Armenier getötet. 50 Quadratkilometer armenisches Gebiet seien in der Hand des Gegners, sagte er im Parlament. Die aserbaidschanische Seite sprach von 54 Toten ihrer Streitkräfte.

Trotz der offenbar erzielten Waffenruhe geriet die armenische Führung wegen der aserbaidschanischen Angriffe unter Druck. In der Hauptstadt Eriwan verlangten Tausende Demonstranten am Mittwochabend Paschinjans Rücktritt. Sie warfen ihm Nachgiebigkeit gegenüber Baku vor.

Die beiden ehemaligen Sowjetrepubliken haben bereits zwei Kriege um die umstrittene Region Bergkarabach geführt. Der jüngste Waffengang im Herbst 2020 dauerte sechs Wochen und endete mit einem Teilerfolg Aserbaidschans, das Teile von Bergkarabach zurückerobern konnte.

Nach dem Waffenstillstand 2020 hatte Russland die Rolle einer Garantiemacht übernommen. Ein Teil der russischen Friedenstruppen wurde aber offenbar in den vergangenen Monaten wegen des Kriegs in der Ukraine abgezogen. Die anscheinend lascher werdende Kontrolle der Friedensabsprachen zwischen den Konfliktparteien, in denen es unter anderem um die Kontrolle von Verbindungsstraßen zwischen Karabach und dem armenischen Kernland und damit um die Versorgung und Sicherheit der noch in Bergkarabach lebenden Armenier geht, könnte ein Grund für den Ausbruch der Kämpfe sein.

Ein anderer Grund dürfte sein, dass das von Ankara unterstützte Baku eine Chance witterte, auch den Rest von Bergkarabach zu erobern, solange der armenischen Schutzmacht Russland wegen des Ukraine-Kriegs die Hände gebunden zu sein scheinen. Dies könnte die indirekte Zustimmung Ankaras gefunden haben: Die Türkei will ihren Einfluss im Südkaukasus ausdehnen und betrachtet das turksprachige Aserbaidschan als "muslimische Brudernation". Hauptziel der Türkei ist die Öffnung einer Handelsroute mittels eines Landkorridors von Ostanatolien über die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan bis in das aserbaidschanische Kernland und dessen Küste am Kaspischen Meer. Von dort aus stünde der Türkei ein Handelsweg nach Zentralasien und China offen.

Territorialfragen sind ungeklärt

Vor der von Eriwan verkündeten Vereinbarung für eine Waffenruhe hatte ein Sprecher des armenischen Verteidigungsministeriums laut dpa gesagt: "In Richtung Dschermuk hat der Gegner Kampfdrohnen eingesetzt." Auch das nördlich davon gelegene Dorf Werin Schorscha sei attackiert worden. Baku dementierte die Vorwürfe aus Eriwan und warf dem Nachbarn seinerseits Angriffe vor. Der aserbaidschanischen Darstellung zufolge beschoss das armenische Militär Stellungen im Gebiet Kalbadschar im Westen Aserbaidschans. Dabei setzten die armenischen Truppen auch Haubitzen ein. Unabhängig waren die Aussagen bisher nicht zu überprüfen.

Die Kämpfe der vergangenen Tage zeigen, wie schnell die Lage eskalieren und ein neuer dritter Südkaukasus-Krieg ausbrechen könnte. Armeniens Vizeaußenminister Paruyr Hovhannisyan warnte im Gespräch mit der Agentur Reuters vor einem neuerlichen Waffengang. Er rief die in der Region aktiven Großmächte dazu auf, mehr Aufmerksamkeit auf den Kaukasus zu lenken.

Der erste Südkaukasus-Krieg zwischen den Ex-Sowjetrepubliken fand 1992 bis 1994 statt. Er endete mit der armenischen Eroberung der völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Gebirgsregion Karabach. Armenien erhebt einen auf sein mittelalterliches Reich zurückgehenden Anspruch auf das Gebiet und beruft sich zudem auf die große armenische Bevölkerung in Karabach.

Nach dem ersten Südkaukasus-Krieg riefen die Karabach-Armenier dann dort die Republik Bergkarabach aus. Diese wurde völkerrechtlich nicht anerkannt. Im zweiten Krieg konnte Aserbaidschan die Ebenen rund um Karabach und Teile der Gebirgsregion selbst zurückerobern. Die Territorialfragen sind aber nicht abschließend geklärt worden.

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