Großbritannien:Zeitenwende im Unterhaus

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  • Am Montag wählt das britische Parlament einen neuen Sprecher, den Nachfolger John Bercows, der zum 31. Oktober zurückgetreten ist.
  • Als Favorit gilt der moderate Labour-Politiker Lindsay Hoyle.
  • Auch andere bekannte Parlamentarier verlassen das Haus zum Ende der Sitzungsperiode. Sie klagen darüber, dass persönliche Angriffe gegen sie zugenommen haben.

Von Cathrin Kahlweit, London

Kenneth Clarke hatte schon so viele wichtige Positionen in seinem langen Berufsleben inne, dass die letzte am Montag - karrieretechnisch - nicht mehr ins Gewicht fällt: Er ist Finanzminister gewesen und Innenminister, Gesundheits-, Justiz- und Erziehungsminister. Abgeordneter seit 1970, also seit einem halben Jahrhundert, zuletzt "Vater des Hauses", mithin das längstdienende Mitglied des Unterhauses und eine Art Klassensprecher für die 650 Kollegen.

Clarke wäre sogar, fast, Premierminister gewesen, im Sommer dieses Jahres, als es kurz so aussah, als könnten sich die Oppositionsparteien im Kampf gegen Boris Johnson einigen und gemeinsam einen Übergangspremier aufstellen. Dreimal hatte er im Laufe seines langen Lebens selbst vergeblich an der sogenannten Leadership Challenge teilgenommen - erfolglos.

Bevor er geht, hält Bercow noch eine Abschiedsrede

Ken Clarke war und ist eine Legende, das ikonografische Abbild eines Briten, wie ihn sich die Welt vorstellt: trinkfest, selbstironisch, ätzend direkt, liberal. Und doch geht er mit 79 Jahren, wenn sich das Parlament am Dienstag für den Wahlkampf auflöst, nicht als Mitglied der konservativen Fraktion in den Ruhestand - nach all den Jahren Dienst an der Partei, am Parlament, am Königreich. Premier Johnson hatte ihn im September aus der Fraktion werfen lassen, seither sitzt er als Unabhängiger im Unterhaus. Einige Kollegen, die mit ihm gefeuert worden waren, sind wiederaufgenommen worden in die Fraktion. Clarke nicht.

In der letzten Fragestunde des Premierministers, an der er teilnahm, stellte er Boris Johnson seine letzte Frage mit der üblichen Bissigkeit: Wie das Freihandelsabkommen aussehen solle, das auszuhandeln doch sicher Jahre dauern werde? Und ob sich nicht zum Schluss erweisen werde, dass Johnson niemals einen so guten Deal bekommen würde, wie es die Mitgliedschaft in der EU biete? In der Frage steckten zwei Gemeinheiten. Denn Johnson behauptet, Verhandlungen über Stufe zwei des Brexit, ein künftiges Handelsabkommen, würden Ende 2020 abgeschlossen sein. Und sein neuer Deal werde besser sein als alles, was die EU zu bieten habe. Ein typischer Clarke war das: hinterlistig, kritisch, ironisch. Während Johnson antwortete, hörte Clarke schon gar nicht mehr zu; er unterhielt sich mit Johnsons Vorgängerin Theresa May. Es war Parlamentssprecher John Bercow, der nach diesem kleinen Intermezzo die Abschiedsrede für Clarke hielt. Er sei ein "großer Mann".

Ironie des Schicksals, dass nun, am vorletzten Tag einer, seiner Ära, Clarke dort sitzt, wo bis zum vergangenen Donnerstag John Bercow gesessen hatte. Clarke leitet eine Abstimmung, die über seine Ära hinaus von Bedeutung sein dürfte. Denn Bercow war, das hatte er im Sommer angekündigt, am 31. Oktober zurückgetreten.

Beste Chancen auf das Amt hat offenbar der Labour-Mann Lindsay Hoyle

Nun braucht das Unterhaus einen neuen Chef/Vorsitzenden/Präsidenten - der Posten ist weit mehr als ein Sprecheramt. Das Unterhaus soll also kurz vor seiner Auflösung und dem offiziellen Beginn des Wahlkampfs noch schnell einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählen. Sieben Abgeordnete meldeten bis zum Mittag ihre Kandidatur an; am Nachmittag - nach sieben kurzen Bewerbungsreden - sollen die Parlamentarier zur Wahl schreiten.

Die Kandidaten, vier von Labour, drei von den Konservativen, hatten im Vorfeld angedeutet, was sie alles anders machen wollten als Bercow, der die Rechte des Parlaments gegen die Regierung mit Zähnen und Klauen verteidigt - und damit Downing Street regelmäßig zur Weißglut getrieben hatte. Beste Chancen hat offenbar der moderate Labour-Mann Lindsay Hoyle, der eine Kampagne für einen zivileren Umgangston im Unterhaus starten will. Hoyle hat auch die Unterstützung vieler Tories, die auf einen neuen Sprecher hoffen, der ihnen in Brexit-Fragen weniger Ärger machen wird als der selbstbewusste Bercow.

Nicht nur die Abschiede von Clarke und Bercow markieren jedoch eine Zeitenwende in einem Parlament, das in den vergangenen Jahren intensiv mit sich und dem Brexit rang. Mehr als 50 Abgeordnete treten nicht mehr an, viele darunter eigentlich zu jung, um ihre Karrieren freiwillig zu beenden. Aber die Hassmails, die Todesdrohungen, die Angst vor Übergriffen und Anschlägen haben vor allem weiblichen Abgeordneten das Gefühl gegeben, dass sie ihr Leben als Abgeordnete schlicht nicht mehr ertragen. Zuletzt war es, zur allgemeinen Überraschung, Kulturministerin Nicki Morgan, 46, gewesen, die ihren Rückzug bekannt gab. Das permanente Klima der Angst, in dem sie lebe und arbeite, habe zu negative Auswirkungen auf ihre Familie, sagte sie, merklich erschüttert.

Die Wahlen könnten dem Unterhaus zwei Brexit-Fraktionen bescheren

Unfreiwillig Abschied nehmen dürften auch zahlreiche liberale Tories und Ex-Tories, die mit ihrer EU-freundlichen Haltung keine Chance auf Wiederwahl in einer Partei und einem Umfeld haben, das zunehmend von Hardlinern dominiert wird. Unter den etwa 40 000 Neuzugängen, welche die Konservative Partei in den vergangenen Monaten vermelden konnte, sind offenbar vor allem Brexiteers, die einen harten Brexit erzwingen wollten. Das renommierte Meinungsforschungsinstitut YouGov hatte das Phänomen, "Entryism" (was bedeutet, gezielt in eine Partei einzutreten, um ihren Kurs zu einem bestimmten Thema zu bestimmen) untersucht und festgestellt, dass überproportional viele Tories seit 2017 Mitglieder geworden seien, um für Boris Johnson und damit für eine harte Brexit-Linie zu stimmen. Viele Wahlkreise werden nun besonders EU-kritische Tory-Kandidaten ins Rennen schicken.

Und dann ist da noch die Brexit-Partei von Nigel Farage. Der hatte am Sonntag angekündigt, selbst nicht für das Unterhaus zu kandidieren, aber in möglichst allen Wahlkreisen eigene Kandidaten aufzustellen, um für einen "echten Brexit" zu werben. Frustrierte Leaver könnten dem Unterhaus also zwei Brexit-Fraktionen bescheren. Fraglich ist derzeit nur, wie sehr sich die Hardliner gegenseitig Konkurrenz machen werden.

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