Netanjahu-Haftbefehl:Ein gutes Wort für Netanjahu

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„Willens und in der Lage“: Die Bundesregierung glaubt, dass Israels Justiz mutmaßliche Kriegsverbrechen selbst ahnden kann – Blick auf den Norden Gazas. (Foto: Friedrich Bungert)

Die Bundesregierung rät dem Internationalen Strafgerichtshof, keinen Haftbefehl gegen Israels Premier zu erlassen. Juristisch argumentiert sie dabei ziemlich gewagt.

Von Ronen Steinke

Am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beugen sich in diesen Tagen drei Untersuchungsrichter über die Personalie Benjamin Netanjahu. Der israelische Politiker, geboren am 21. Oktober 1949 in Tel Aviv, wohnhaft in der Ministerpräsidentenresidenz an der Smolenskinstraße 9 in Jerusalem, ist der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in sieben verschiedenen Fällen verdächtig. So behauptet es zumindest der Chefankläger dieses Strafgerichtshofs. Es geht um einzelne militärische Taktiken, vor allem um den Vorwurf eines gezielten Aushungerns der Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Ist dieser Verdacht auch stichhaltig? Das müssen nun die unabhängigen Richter prüfen, bevor sie den beantragten Haftbefehl gegen Netanjahu tatsächlich erlassen – oder ablehnen. So wie auch gegen Netanjahus Verteidigungsminister Joav Gallant.

Es ist eine Phase der Stille in Den Haag. Nichts dringt nach außen, seitdem dieses Verfahren am 20. Mai begonnen worden ist. Die Richter – zwei Frauen und ein Mann – lassen sich nicht in die Karten schauen, während sie sorgfältig die Beweislage durchgehen auf der Suche nach einem hinreichenden Tatverdacht. Und in dieser Situation mischt sich nun die deutsche Bundesregierung ein. Das Auswärtige Amt hat einen Brief an das verschwiegene Richtergremium geschickt. Darin legt Berlin ein gutes Wort ein für Netanjahu und Gallant. Das Auswärtige Amt argumentiert offenbar, der Internationale Strafgerichtshof sei juristisch gar nicht zuständig für die beiden Israelis. So hat es zuerst die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet.

Schon ein Premier und ein Präsident mussten ins Gefängnis

Der genaue Inhalt des Briefs ist geheim. Seine Quintessenz aber ist auf verschiedenen Wegen durchgesickert. Die Bundesregierung argumentiert demnach, kurz gesagt, dass schon die innerstaatliche israelische Justiz so gut arbeite, dass für den Internationalen Strafgerichtshof gar keine Arbeit mehr übrig bleibe. Israel sei ein Rechtsstaat, und als solcher dürfe Israel sich selbst um seine Tatverdächtigen kümmern. Vorfälle wie Angriffe auf Schulen oder Krankenhäuser „müssen durch die israelische Justiz lückenlos aufgeklärt und, wo erforderlich, bestraft werden“, zitierte etwa die FAZ dazu eine Stimme aus dem Außenministerium von Annalena Baerbock (Grüne). „Dazu haben wir Israel wiederholt aufgefordert, und das hat die israelische Justiz auch wiederholt angestoßen.“ Alles gut also?

So legt es das Auswärtige Amt nahe – im Rahmen eines sogenannten Amicus-Curiae-Briefs an das Gericht. Das ist eine Form von juristischer Intervention, die ein unbeteiligter Staat von der Seitenlinie aus schicken darf. Einfach nur eine Art freundlicher Ratschlag von außen an die Richterbank – ein Hinweis auf ein paar Punkte, die das Gericht berücksichtigen möge.

Die Bundesregierung beruft sich dabei auf den juristischen Grundsatz der sogenannten Komplementarität. Das bedeutet: Der Internationale Strafgerichtshof darf nur dann ermitteln, wenn ein betroffener Staat wie Israel nicht „willens und in der Lage“ ist, die Sache selbst angemessen aufzuklären. Dieses Prinzip ist im Statut des Strafgerichtshofs verankert, in Artikel 17. Was als angemessene Aufklärung durchgeht – das ist dann natürlich Ansichtssache.

Einerseits ist die unabhängige Justiz in Israel bekannt für ihre Furchtlosigkeit, wenn es um Korruptionsvorwürfe geht. Allein mit Verurteilten und Angeklagten ließe sich in Jerusalem theoretisch schon eine stattliche Regierung bilden. 2014 wurde der ehemalige Premier Ehud Olmert für mehrere Jahre ins Gefängnis geschickt, so wie drei Jahre zuvor auch der ehemalige Staatspräsident Mosche Katzav wegen Vergewaltigung. 2022 verlor Netanjahu seinen damaligen Innenminister, Arye Deri, als dieser mitten in seiner Amtszeit wegen Steuerbetrugs verurteilt wurde. Auch Netanjahu selbst ist derzeit angeklagt wegen Korruption. Der Mammutprozess gegen ihn läuft auch in Kriegszeiten weiter. Derzeit werden die Zeugen der Verteidigung angehört.

Andererseits hat Israels Justiz bis hinauf zum Obersten Gericht nie klar Stellung bezogen gegen die völkerrechtswidrige Besatzung des Westjordanlands, gegen völkerrechtswidrige Siedlungen oder auch gegen das völkerrechtswidrige Zerstören von Häusern der Familien von Terroristen als eine Form von Kollektivstrafe. Einzelne israelische Soldaten mussten sich immer mal wieder für Exzesse verantworten. Das schon. Um die großen Linien ging es dabei aber nie. Der an der Universität in Jerusalem lehrende Völker- und Verfassungsrechtler David Kretzmer erläutert es so: In „patriotischen“ beziehungsweise außenpolitischen Fragen der Besatzungs- und Verteidigungspolitik habe Israels Justiz den Konflikt mit der Politik seit Jahrzehnten gemieden. Vielleicht auch, um ihren Rückhalt in der Bevölkerung nicht ganz aufs Spiel zu setzen.

Auch London hat wie Berlin einen Brief nach Den Haag geschickt

Der in Bonn und Oxford lehrende Völkerrechtler Stefan Talmon leitet daraus eine Kritik auch der deutschen Bundesregierung ab. Er könne sich mit Blick auf die Entwicklungen in Israel, sagt Talmon, „nicht vorstellen, dass Kommandeure oder gar Regierungsmitglieder vor Gerichte zitiert werden wegen militärischer Befehle“. Er fügt hinzu: Wenn diese fromme Hoffnung auf die israelischen Selbstreinigungskräfte alles sei, was das Auswärtige Amt in Berlin jetzt juristisch aufzubieten habe, dann sei das „extrem schwach“.

Deutschland steht nicht allein da. Auch Großbritannien zählt zu den insgesamt 20 Staaten, die Amicus-Curiae-Briefe angekündigt oder auch bereits eingeschickt haben. Großbritannien legt darin ebenfalls ein gutes Wort für Netanjahu ein. Allerdings argumentiert die Regierung in London dabei etwas vorsichtiger. So weist sie den Strafgerichtshof lediglich darauf hin, dass man juristisch anzweifeln könne, ob der „Staat Palästina“ wirklich die Befugnis habe, internationale Ermittler auf sein Territorium einzuladen. Schließlich hätten die Palästinenser im Rahmen der Osloer Verträge zu Beginn der 1990er-Jahre ausdrücklich akzeptiert, dass sie keine juristische Hoheit über israelische Soldaten haben würden. Über diesen Gedanken „kann man diskutieren“, meint der deutsch-britische Völkerrechtler Talmon. Laut einem Bericht des Guardian überlegt die neue Regierung in London, die seit dem 5. Juli nicht mehr von den Konservativen, sondern von der Labour-Partei angeführt wird, allerdings, diese Netanjahu-freundliche Intervention ihrer Vorgänger zurückzuziehen.

Ob sich die Haager Untersuchungsrichter im Fall Netanjahu von all dem überhaupt beeindrucken lassen werden, bleibt unterdessen ihr Geheimnis. Bis mindestens 6. August. Erst dann läuft die Frist für Amicus-Curiae-Stellungnahmen an das Weltstrafgericht aus. Und erst danach kann mit einer Entscheidung gerechnet werden, ob ein Haftbefehl gegen Netanjahu und Gallant verhängt wird.

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