Nachruf:Vorkämpfer für das Völkerrecht

Nachruf: Bis ins hohe Alter trat Benjamin Ferencz offensiv für Frieden und Gerechtigkeit ein.

Bis ins hohe Alter trat Benjamin Ferencz offensiv für Frieden und Gerechtigkeit ein.

(Foto: Damon Higgins/Imago)

Nicht nur sein Alter hat Benjamin Ferencz zu einem "Jahrhundertzeugen" gemacht. Nun ist der "letzte lebende Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen" mit 103 Jahren gestorben.

Von Robert Probst

Benjamin Ferencz hat seine erste Mission einmal so zusammengefasst: "Ich war der erste Mann in der US-Armee, der Kriegsverbrechen auf der Spur war. Ich hatte einen Jeep, auf dem stand: Geht aus dem Weg." Das war 1943/44, als einfacher Soldat kämpfte er gegen den NS-Staat. In den Konzentrationslagern Dachau, Mauthausen und Buchenwald sah er als junger Mann Berge von Leichen und Menschen, die fast verhungert und entkräftet auf den sogenannten Todesmärschen unterwegs waren. Aus dieser Erfahrung ("Ich habe in die Hölle gestarrt") leitete Ferencz als Jurist sein Lebensmotto ab: "Law, not war". Und er lebte dieses Motto, jahrzehntelang. Nicht nur sein Alter hat ihn zu einem "Jahrhundertzeugen" gemacht, sondern vor allem, dass er bis zum Schluss täglich und offensiv für Frieden und Gerechtigkeit eintrat.

In Deutschland wurde Ferencz lange Zeit wenig gewürdigt, als "letzter lebender Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen" wurde er aber in den vergangenen Jahren einem breiteren Publikum bekannt - nicht nur durch eine Biografie und einen Dokumentarfilm, sondern auch eine Autobiografie ("Sag immer Deine Wahrheit. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben") und seine "Benny Stories" im Internet, eine Art Internettagebuch, trugen dazu bei. Der Titel des Films hieß passenderweise: "A man can make a difference".

Er kam als Kind jüdischer Eltern nach New York und arbeitete sich hoch

Benjamin Ferencz, geboren am 11. März 1920 im damals noch ungarischen Nagysomkút (heute Șomcuta Mare in Rumänien), kam als Kind jüdischer Eltern nach New York und arbeitete sich aus ärmlichen Verhältnissen empor zu einem Juraabschluss an der Harvard Law School im Jahr 1943. Aus diesen Zeiten stammt sein anderes Lebensmotto: "Niemals aufgeben, niemals aufgeben und niemals aufgeben". Als Mitglied einer neu gegründeten Abteilung für Kriegsverbrechen ("War Crimes Branch") sicherte Ferencz Beweise für NS-Verbrechen und arbeitete dem US-Chefankläger des Alliierten Militärtribunals in Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher, Telford Taylor, 1945/46 zu.

Als einer seiner Mitarbeiter zufällig einen Aktenordner mit einer akribischen Dokumentation der Morde der "Einsatzgruppen" - Polizeieinheiten, die den Holocaust außerhalb der Vernichtungslager betrieben - in der Sowjetunion fand, bekam Ferencz seine erste Chance als Jurist. Von Herbst 1947 an trat Ferencz, damals 27 Jahre alt, als leitender Ankläger im sogenannten Einsatzgruppenprozess auf, dem neunten der "Nürnberger Nachfolgeprozesse". Er selbst bezeichnete den Prozess als den größten Mordprozess aller Zeiten. Tatsächlich wurden den 24 Angeklagten Taten vorgeworfen, die Hunderttausende Leben gekostet hatten. Die Anklage stützte sich dabei auf den völlig neuen völkerrechtlichen Straftatbestand des Genozids - ein historischer Schritt.

Der juristische Umgang mit Krieg und staatlichen Gewaltverbrechen prägte das Leben des jüdisch-amerikanischen Anwalts bis weit ins 21. Jahrhundert hinein. Seine zweite Mission galt der damals sogenannten Wiedergutmachung. 1948 wurde er Generaldirektor der Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) und verhandelte über die Rückgabe von enteignetem jüdischen Vermögen. In den 1950er-Jahren forderte er vehement Entschädigungszahlungen deutscher Unternehmen an überlebende KZ-Häftlinge für die geleistete Sklavenarbeit.

Putins Angriffskrieg auf die Ukraine sah er als Angriff auf sein Lebenswerk

Zurück in den USA trat er in die Kanzlei von Telford Taylor ein (und wurde dort zu einem vermögenden Mann, der aber auch Millionen Dollar für gemeinnützige Zwecke spendete). In den 1970er-Jahren setzte er sich für die Neugestaltung des Völkerstrafrechts ein, forderte angesichts des Vietnamkriegs die Anwendung der "Nürnberger Prinzipien" weltweit und avancierte zur Symbolfigur für die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Mit fast 90 Jahren eröffnete er 2009 symbolisch das erste Plädoyer der Anklage des Gerichts in Den Haag. Seine dritte Mission war erfüllt.

Nicht aber sein größter Wunsch: "Ich habe erlebt, dass aus eigentlich anständigen Menschen Massenmörder werden können. Krieg kann das machen. Krieg zerstört jede Form von Moral und wurde trotzdem jahrhundertelang glorifiziert. Ich habe mein Leben damit verbracht, diese Ansicht umzudrehen und dafür zu sorgen, dass das, was immer glorifiziert wurde, als das schreckliche Verbrechen gesehen wird, das es ist."

Die historische Rolle von Benjamin Ferencz geht über die Bedeutung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse hinaus. Er war nichts weniger als ein Vorkämpfer für das Völkerrecht, der Putins Angriffskrieg auf die Ukraine auch als Angriff auf sein Lebenswerk sah. Bei ihm verstand man die Unmenschlichkeit der NS-Rassepolitik, wenn er nüchtern darüber erzählte, wie die Mörder Kugeln sparten, indem sie Frauen und Babys mit einem Schuss töten sollten. Deshalb klang es bei ihm auch nie kitschig, wenn er von Gerechtigkeit und Frieden auf der Welt sprach.

Am 7. April ist Benjamin Ferencz im Alter von 103 Jahren in Florida gestorben.

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