In den Niederlanden verhandeln die Parteien nach der Wahl im März noch immer über eine Regierung - Ministerpräsident Mark Rutte braucht neue Partner. Doch das gilt nicht nur im Inland. In den vergangenen Monaten war der liberalkonservative Politiker auffallend viel unterwegs in Europa.
Er traf sich zweimal mit den Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, mit Irland und Dänemark, mit nordischen und baltischen Kollegen, mit Franzosen, Spaniern, Slowenen - manchmal allein, manchmal als Vertreter der Benelux-Gruppe.
Die Niederlande, heißt es in der Regierung offen, suchen neue Alliierte, potenzielle Bündnisgenossen. "Wir wollen uns neu positionieren in der EU", heißt es, so viel weiß man schon. Wo diese Position am Ende liegt, das werde man sehen. "Wir testen die Stimmung."
Es ist der Brexit, der alles durcheinanderbringt in der EU. Alte Rechnungen gehen plötzlich nicht mehr auf. Für die Niederlande gilt das besonders.
Denn ihnen kommt in Großbritannien ein wertvoller Partner abhanden, der zwei wichtige Interessen teilt: die Vorliebe für den freien Handel von Gütern und Kapital mit möglichst wenigen Einschränkungen; und die Skepsis gegenüber dem vor allem von Deutschland und Frankreich betriebenen Ziel, die EU immer mächtiger zu machen.
In Wahrheit seien die Briten ja schon weg, sagt ein niederländischer Regierungsvertreter. Umso dringlicher scheint die eigene Neuorientierung zu sein.
Dies gelte, so wird betont, unabhängig davon, welche Koalition bald regiert. Zumal das absehbare Bündnis aus Rechtsliberalen, Linksliberalen, Christdemokraten und einer kleinen Partei keine Überraschung birgt.
Mehrere Optionen liegen auf dem Tisch. Die Niederlande könnten versuchen, noch stärker auf die Benelux-Staaten zu setzen. Allerdings gibt es auch in diesem Klub Differenzen: Während die Niederlande einen weichen Brexit befürworten, der ihren starken Handel mit den Briten nicht gefährdet, fordert Luxemburg harte Regeln für London, weil sie den eigenen Finanzplatz begünstigen. Die Belgier wiederum sind den Niederländern wegen ihrer Europa-Begeisterung verdächtig.
Also doch lieber mit den ebenfalls seefahrenden Skandinaviern anbandeln oder gar mit den Osteuropäern, mit denen man immerhin den Wunsch teilt, den Binnenmarkt auszubauen?
Solche Koalitionen mit kleineren und mittelgroßen Staaten könnten schnell zerbrechen, sie seien "wie eine Schubkarre voller Frösche, die in alle Richtungen davon springen", warnt Adriaan Schout, Regierungsberater beim Haager Clingendael-Institut. Deutschen und Franzosen falle es zudem leicht, einzelne Länder aus Bündnissen herauszulösen, etwa durch finanzielle Zusagen.
Sich in der "deutsch-französischen Achselhöhle" verstecken?
Denkbar wäre auch, zwischen den großen Blöcken in der EU zu vermitteln. Also bei der Schlichtung jener Streitfragen zu helfen, in denen der Norden gegen den Süden steht (Thema Euro) oder Ost gegen West (Migration). Aber diese Rolle wollen viele Staaten gerne spielen, und es ist fraglich, ob sie dem Ziel der Niederländer diente, ihre Machtposition halten zu können.
Eine weitere Option wäre, sich nah an der wieder gefestigten Achse Berlin-Paris zu bewegen, sich, wie der damalige Außenminister Hans van Mierlo in den 1990er-Jahren anregte, "in der deutsch-französischen Achselhöhle zu verstecken". Dass es die Niederländer dort gemütlich finden, ist unwahrscheinlich.
Vielmehr wird die neu entflammte deutsch-französische Liebe in Den Haag mit gemischten Gefühlen gesehen. "Das deutsch-französische Europa ist das Europa, das wir nie gewollt haben", sagt Schout.
Es ist "ein Europa, das beschützt", wie es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorschwebt, ein Europa mit protektionistischen Reflexen, eines auch, in dem Regeln flexibel ausgelegt werden, wenn es politisch opportun ist.
Die Niederlande sind weit EU- oder besser: integrationsskeptischer, als gemeinhin angenommen wird. Der europäischen Einigung, die viel mehr war als nur ein Wirtschaftsprojekt, misstrauten sie und stiegen nur ein, weil sie glaubten, sich das Draußenbleiben nicht leisten zu können.
Ihren Frieden mit der Gemeinschaft machten sie erst, als es ihnen gelungen war, die Briten ins Boot zu holen. Die Verbindungen dorthin wirkten wie eine Versicherung gegen die frankogermanische Dominanz.
Das Land befürchtet, alleine und machtlos in der EU zu sein
Nun kriecht die alte Angst wieder hoch, allein in der nordwestlichen Ecke der EU zu sitzen. Und machtlos zusehen zu müssen, wie die Bundesregierung um des lieben Friedens willen Zugeständnisse an Paris macht, die aus Haager Sicht in die grundfalsche Richtung zielen.
Hinsichtlich der Zukunft der gemeinsamen Währung etwa. "Institutionelle Fragen sind uns nicht so wichtig", ist dazu aus der niederländischen Regierung zu hören. Übersetzt: Die französische Idee, der Euro-Zone einen eigenen Finanzminister und ein Budget zu geben, lehnen wir ab.
"Ich verstehe ehrlich nicht, warum das nun gefordert wird", sagt Schout. "Wenn sich alle an die Defizitregel von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hielten, wären sie gezwungen zu reformieren, so wie die Niederlande und Deutschland das getan haben."
Europa-Experte Schout empfiehlt seinem Land, künftig das zu machen, was bisher die Briten immer wieder gemacht hätten: "den anderen die Wahrheit vor Augen halten". Die EU-Institutionen müssten dringend reformiert werden. "Kommission und Parlament arbeiten zu eng zusammen, es gibt keine richtige Gewaltenteilung in Brüssel."