Es war pünktlich um 19 Uhr am 15. März, als Organisatoren eines Protestes in Belgrad zu 15 Minuten des Schweigens für die 15 Opfer aufriefen, die beim bis heute ungeklärten Einsturz des Bahnhofsvordaches von Novi Sad am 1. November 2024 gestorben waren.
Doch wenige Minuten nach Beginn des schweigenden Gedenkens brach Panik aus. Tausende strömten panisch auseinander, mehrere Menschen fielen zu Boden; viele wandten sich mit Wunden, Verlust des Gleichgewichts, Störungen des Hörsinns oder rasenden Kopfschmerzen an Belgrader Ambulanzen.
Und etliche berichteten wie der Belgrader Medizinprofessor Zoran Radovanović im Fernsehsender N1, sie hätten entweder extremen Lärm wie von einem startenden Flugzeug gehört oder niedrigschwellige Bass- und Ultraschallwellen gespürt. Entsprechende Videoaufnahmen zeigten die Panik.
„Ich sage ihnen jetzt: Wenn unsere Kräfte eine Schallkanone eingesetzt haben, bin ich nicht mehr Präsident.“
Das Belgrader Zentrum für Forschung, Transparenz und Rechenschaft (CRTA) stellte zwölf Videos der auf akustische Analysen spezialisierten Londoner Bürgergruppe Earshot zur Verfügung. Am 17. März stellte Earshot fest, vier der Videos enthielten einen Sound, der mit dem Klang übereinstimme, der von einer Vortex Ring Gun oder Vortex (Schall-) Kanone produziert wird. Dieses Gerät könne eingesetzt werden, „um Massenpanik zu erzeugen“.
Die Behörden dementierten. Präsident Aleksandar Vučić, der Serbiens Politik seit über einem Jahrzehnt bestimmt, schimpfte über angebliche Lügner, die zur Verantwortung gezogen würden. „Es hat keinerlei Schallkanone gegeben, weil es die in Serbien gar nicht gibt“, sagte der Präsident im regierungsnahen Fernsehsender Pink TV. „Ich sage, damit es alle Menschen wissen, dass es keinerlei, absolut keinerlei Schallkanone gibt, keinerlei Vortex, Vertox oder wie immer die heißen, weil es sie in unserem Land nicht gibt. Es gab nichts dergleichen.“ Und, fügte Vučić hinzu: „Ich sage ihnen jetzt: Wenn unsere Kräfte eine Schallkanone eingesetzt haben, Vortex oder wie immer sie heißen mögen, bin ich nicht mehr Präsident.“
Dann kam der 19. März. Die Tageszeitung Nova veröffentlichte ein Foto vom Tag der Demonstration: Dieses zeigte neben dem Parlament eine Sondereinheit der Gendarmerie mit einem Jeep, auf dem eine Schallkanone montiert war. Mehr noch: Im Parlament präsentierte die zur Opposition gehörende Parlamentarierin Marinika Tepić ein Angebot und einen von sechs Mitarbeitern des Innenministeriums unterschriebenen Kaufvertrag vom 2. April 2021 mit der Firma Romax Trade und dem staatlichen Importeur Jugoimport SDPR.
Vereinbart wurde der Kauf von neun auch als Schallkanonen einsetzbaren Geräten vom Typus LRAD 110 X und sieben vom Typus LRAD 450 XL nebst Zusatzausrüstung des US-Herstellers Genasys. Lieferzeit: höchstens 120 Tage. Gesamtkosten: Gut 81 Millionen serbische Dinar, umgerechnet 682 000 Euro. Die Geräte reichen der Broschüre zufolge bis zu 1700 Meter weit. Außerdem können sie nicht nur als Lautsprecher für Mikrofonansagen dienen, sondern auch jede andere eingespielte Aufnahme wiedergeben. Maximale Schallleistung: bis zu 150 Dezibel – lauter als ein startendes Düsenflugzeug.
Innenminister Ivica Dačić, der zuerst ebenfalls behauptet hatte, die Sicherheitskräfte hätten keinerlei entsprechenden Geräte, behauptete nun, die Geräte seien seit ihrem Kauf in Kisten eingemottet gewesen und nicht zum Einsatz gekommen. Auch US-Produzent Genasys behauptete in einer Stellungnahme auf X: „Die Video- und Audiobelege, die wir bisher gesehen und gehört haben, unterstützen bisher nicht den Gebrauch eines LRAD beim Zwischenfall vom 15. März in Belgrad.“
Die Parlamentspräsidentin beschuldigt die Medien, Hass zu verbreiten
Dem Oppositionsabgeordneten Miroslav Aleksić zufolge verfügt die Sonderpolizei Gendarmerie in Belgrad, Niš, Kraljevo und Novi Sad über fünf Schallkanonen; drei Geräte besitze Serbiens Anti-Terror-Einheit SAI und fünf die Belgrader Polizei. Die Zeitung Danas zitierte ein Gendarmeriemitglied, demzufolge zwei Schallkanonen am Parlament und weitere an anderen Stellen der Innenstadt stationiert gewesen seien. Der Mediziner und Akustiker Goran Belojević sagte der Zeitung, es seien offenbar sowohl extrem hohe wie Ultraschallwellen eingesetzt worden, um „Chaos und ein Auseinanderlaufen der Menge“ zu erzeugen. Innenminister Dačić zufolge fehlt bis heute ein Gesetz, das den Einsatz von Schallkanonen in Serbien erlaubt.
Der Bericht „Überwachungstechnik in Serbien“ der sich für Migrantenrechte einsetzenden Border Violence Monitoring Group behauptet indes, Serbiens Polizei habe eine Schallkanone offenbar bereits am 7. November 2023 im Städtchen Sombor bei einer Vertreibungsaktion gegen Migranten eingesetzt. „Ein lauter, durchdringender Sound – im Ton höher als ein Gewehrschuss – wurde mit einem einer Waffen ähnelnden Gerät von einem der Polizeioffiziere auf dem Feld hinter der Residenz [der Flüchtlinge] eingesetzt“, so eine von Recherchenetzwerk Birn eingesehene Notiz eines beteiligten Bürgerrechtlers.
Präsident Vučić beharrte gegenüber N1 darauf, niemand habe eine Schallkanone eingesetzt. Die Proteste und Berichte über den mutmaßlichen Einsatz von Schallkanonen sollen „Serbien zerstören, sodass die inkompetentesten und schlimmsten Diebe, die morgen Serbiens Parlament betreten, behaupten können, eine Übergangsregierung sei im besten Interesse des Landes“, so Vučić. Seine Verbündete, Parlamentspräsidentin Ana Brnabić, beschuldigte N1 und andere Medien der von der Regierung unabhängigen United Media-Gruppe, Hass zu verbreiten. „Wir sehen jeden Tag Lügen, die den Sinn haben, für Bürgerkrieg zu sorgen.“
Der Oppositionspolitikerin Biljana Bilja Đorđević zufolge sollen sich bisher um die 3000 Teilnehmer des Protestes und Zeugen des möglichen Schallkanoneneinsatzes bei Bürgergruppen, Rechtsanwälten und Oppositionsparteien gemeldet haben. Serbiens Regierung behauptet, sie habe das US-Ermittlungsbüro FBI und Russlands Geheimdienst FSB um eine „unabhängige Untersuchung“ gebeten.