Belgien:Wo der Ausnahmezustand fast  Normalität ist

Belgien: Belgiens amtierender Premier Charles Michel möchte weiter regieren.

Belgiens amtierender Premier Charles Michel möchte weiter regieren.

(Foto: Bruno Fahy/AFP)

Das schwer zu regierende Land wählt eine neue Regierung.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel

Ob im Radio, im Fernsehen oder auf Plakaten auf Straßen und Plätzen: Belgien ist im Wahlkampf, das ist nicht zu übersehen oder -hören. Die Europawahl am kommenden Sonntag spielt dabei aber nur am Rande eine Rolle - das Interesse gilt vor allem den gleichzeitig stattfindenden Parlaments- und Regionalwahlen.

Eine richtige Regierung hat das Land schon seit Dezember nicht mehr: Damals ließ erst die flämische Separatistenpartei N-VA im Streit um den UN-Migrationspakt die sogenannte schwedische Koalition platzen. Kurz darauf drohten die übrig gebliebenen Koalitionspartner Premier Charles Michel mit einem Misstrauensvotum, weil sie ihre Interessen in der neuen Minderheitsregierung nicht ausreichend berücksichtigt sahen. Michel, Mitglied der französischsprachigen Liberalen, reichte beim König seinen Rücktritt ein. Seitdem ist er nur noch geschäftsführend im Amt.

Für das notorisch schwer zu regierende Belgien ist das kein außergewöhnlicher Zustand: Nach der vorvergangenen Wahl 2010 dauerte es ganze 541 Tage, bis eine neue Regierung im Amt war. Michel jedenfalls hat bereits angedeutet, dass er sich vorstellen könnte, auch die nächste Regierung anzuführen. Ob er den Auftrag dazu bekommt, ist aber mehr als fraglich.

Das hat vor allem mit der föderalen Struktur des Königreichs zu tun, die Wahlen in Belgien immer etwas unübersichtlicher macht als in anderen europäischen Ländern. So prägt der Konflikt zwischen den niederländisch sprechenden Flamen im Norden und den französischsprachigen Wallonen im Süden das Land schon auf dem Wahlzettel: Es gibt fast keine Partei, die sowohl in Flandern als auch in der Wallonie antritt. Stattdessen gibt es von Christ- und Sozialdemokraten, von Liberalen, Grünen und den anderen Gruppierungen jeweils zwei voneinander unabhängige Parteien, manchmal sogar noch eine dritte für die deutschsprachige Minderheit in Ostbelgien. So könnten zwar die französischsprachigen Grünen in der zweisprachigen Hauptstadtregion Brüssel tatsächlich zur stärksten Kraft werden - die Klimapolitik ist dort eines der treibenden Wahlkampfthemen. In Flandern dagegen kommen die flämischen Grünen Umfragen zufolge noch nicht einmal auf 15 Prozent.

Dort dürfte wiederum die N-VA erneut die meisten Stimmen bekommen, wenn auch weniger als bei der vergangenen Wahl 2014. Deutlich zugelegt hat dagegen die rechtsextreme Partei Vlaams Belang, die sich für eine Unabhängigkeit von Flandern starkmacht. Unter ihrem jungen Vorsitzenden Tom Van Grieken werden ihr sogar wieder bis zu 15 Prozent der Stimmen zugetraut: längst nicht so viele wie Anfang der 2000er Jahre, aber dreimal so viel wie noch 2014. In der Wallonie dagegen dürfte sich die neue Regierung aus Sozialdemokraten und den Grünen bilden: In dieser Gegend waren im vergangenen Winter die Proteste der belgischen Gilets Jaunes am stärksten; soziale Themen bestimmen den Wahlkampf.

Was aber heißt all das für die Nachfolge von Charles Michel? Insgesamt am stärksten dürfte die N-VA werden, aber nach dem Eklat um den UN-Migrationspakt erscheint es unwahrscheinlich, dass die Partei noch einmal eine Koalition mit Michel versuchen würde. N-VA-Spitzenkandidat Jan Jambon gilt als Hardliner unter den flämischen Nationalisten - aber nicht einmal die Flamen können sich einen N-VA-Mann als Premier vorstellen, wie eine Umfrage der Zeitung Le Soir am Dienstag zeigte. Jambon hat aber bereits angekündigt, für keine Koalition zur Verfügung zu stehen, die er hinterher dann gar nicht anführen darf. Manche Beobachter rechnen darum am ehesten mit einer großen Regenbogenkoalition, ohne die N-VA.

So unübersichtlich die Lage ist, so entspannt sind die Belgier: Jeder zweite glaubt, dass die neue Regierung "bis zum Ende der großen Ferien" schon stehe werde.

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